Viel mehr Missbrauchsopfer in Evangelischer Kirche als angenommen

Die Studie eines interdisziplinären Forschungsverbunds wurde heute vorgestellt. Für die Landeskirche Braunschweig habe das bisherige Aktenstudium 15 Fälle hervorgebracht, die in die ForuM-Studie eingeflossen sind.

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Evangelische Kirche (Archiv)
Evangelische Kirche (Archiv) | Foto: Über dts Nachrichtenagentur

Hannover. Die Zahl der Missbrauchsopfer in der Evangelischen Kirche und Diakonie ist offenbar deutlich höher als bislang angenommen. Das geht aus einer am Donnerstag in Hannover vorgestellten Studie des interdisziplinären Forschungsverbunds "Forum" hervor.



Demnach wurden für die vergangenen Jahrzehnte mindestens 1.259 Beschuldigte dokumentiert. Das sei allerdings nur die "Spitze des Eisbergs", sagten die Forscher. Auf Basis kriminologischer Erkenntnisse zu Dunkelziffern wurden die Zahlen hochgerechnet. Danach liegt die Zahl der Beschuldigten seit 1946 bei 3.497, die der Kinder und Jugendlichen, die sexuell missbraucht wurden, bei 9.355. Die Evangelische Kirche war bislang von rund 900 Missbrauchsopfern ausgegangen. 64,7 Prozent der Opfer sind laut der Untersuchung männlich und rund 35,3 Prozent weiblich.

"Wir übernehmen als EKD die Verantwortung dafür, dass die Ergebnisse in konkrete Maßnahmen überführt werden", sagte die amtierende EKD-Ratsvorsitzende Kerstin Fehrs im Rahmen der Vorstellung der Studie. Das Gesamtbild, das aus der Untersuchung hervorgehe, habe sie "zutiefst erschüttert". Die Hamburger Bischöfin kündigte an, dass Betroffene darüber mitentscheiden würden, welche Konsequenzen gezogen würden.

Föderalismus als Problem


Der Betroffenenvertreter Detlev Zander kritisierte den Föderalismus in der Evangelischen Kirche. Dieser habe die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt verhindert. Es solle eine übergeordnete Stelle, die einheitliche Standards für den Umgang mit Missbrauch entwickeln solle, geben, forderte er.

"Menschen nicht ausreichend geschützt“


Auch Landesbischof Dr. Christoph Meyns äußert sich in einer Pressemitteilung der Ev.-luth.Landeskirche in Braunschweig zum Thema: „Die Studie ist ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zu einer professionellen Aufarbeitung und Prävention sexualisierter Gewalt“, betonte er am heutigen Donnerstag. Gleichzeitig zeigte er sich erschüttert, dass es auch in der evangelischen Kirche ein jahrzehntelanges Versagen beim Umgang mit sexualisierter Gewalt gegeben habe. „Wir haben in der Vergangenheit entsprechende Taten nicht hinreichend bearbeitet und Menschen vor Übergriffen nicht ausreichend geschützt.“

Vor diesem Hintergrund biete die ForuM-Studie wichtige Erkenntnisse zu den Risikofaktoren, die in der evangelischen Kirche und ihrer Diakonie sexualisierte Gewalt begünstigen. Daraus entsprechende Schlüsse zu ziehen, sei eine vorrangige Aufgabe für die nächste Zeit. Dabei sei es entscheidend, die Interessen und Bedürfnisse der Betroffenen in den Mittelpunkt zu stellen. „Außerdem müssen wir die Erkenntnisse nutzen, um unsere Präventionsmaßnahmen weiter zu verbessern“, so Meyns.

Die Fälle in der Landeskirche


Für die ForuM-Studie sind rund 2.500 Personalakten von Pfarrerinnen und Pfarrern von 1939 bis 2021 aus der Landeskirche Braunschweig ausgewertet worden. Die Durchsicht weiterer Akten von Kirchenmusikern und Diakonen werde in nächster Zeit erfolgen, erklärte der Landesbischof. Anders als die Unterlagen von Pfarrerinnen und Pfarrern lägen diese aber nicht zentral im Landeskirchenamt, sondern bei verschiedenen Stellen in der gesamten Region. Das erschwere die Aufarbeitung.

Für die Landeskirche Braunschweig habe das bisherige Aktenstudium 15 Fälle hervorgebracht, die in die ForuM-Studie eingeflossen sind. Darunter zwei Fälle vor 1945 und 13 danach. Sieben Fälle seien Verdachtsfälle, die sich nicht bestätigt hätten. Die verbliebenen acht Fälle seien unterschiedlicher Art: von einem Fall nach Paragraph 175 StGB (sexuelle Handlungen zwischen Männern) aus den 1950er Jahren bis hin zu außerehelichen Beziehungen zu in den 1960er Jahren minderjährigen Frauen. „Kindesmissbrauch oder Pädophilie sind die absolute Ausnahme unter den bisher bekannt gewordenen Fällen“, so der Landesbischof.

Fälle aus Heimen und Krankenhäusern


Abgesehen von den Fällen, die im Rahmen der ForuM-Studie recherchiert wurden, hat eine sogenannte Anerkennungskommission der evangelischen Kirchen in Niedersachsen in den vergangenen zehn Jahren acht Fälle aus dem Gebiet der Landeskirche Braunschweig bearbeitet. Dabei handelte es sich um fünf Fälle aus Heimen und Krankenhäusern in diakonischer Trägerschaft und drei aus Kirchengemeinden. Den betroffenen Personen wurden finanzielle Leistungen sowie weitere Hilfeleistungen, wie Zuschüsse zu Kuren und Therapiekosten, gewährt.

Wie Landesbischof Meyns außerdem erläuterte, habe die Landeskirche Braunschweig in den vergangenen Jahren immer wieder Verbesserungen mit Blick auf Prävention, Intervention und Aufarbeitung im Bereich sexualisierter Gewalt vorgenommen. So habe zum Beispiel im April 2023 eine neue Fachstelle ihre Arbeit aufgenommen, an die sich Betroffene und kirchliche Akteure wenden können, die das Gespräch zum Thema suchen.

Gesetz verabschiedet


Außerdem hat die Landeskirche Braunschweig im Jahr 2022 ein Gesetz zum Schutz vor sexualisierter Gewalt verabschiedet. Es soll dazu beitragen, dass insbesondere Kinder, Jugendliche und Heranwachsende in der Kirche noch besser davor geschützt sind, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden. Es regelt auch, wie mit konkreten Fällen umzugehen ist und wie Betroffenen geholfen werden kann.

Für die kommenden Monate erwartet Landesbischof Meyns eine intensive Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der ForuM-Studie in den kirchlichen Leitungsorganen: „Die Bearbeitung sexualisierter Gewalt in der Kirche ist kein Projekt, sondern eine Daueraufgabe.“ Besondere Bedeutung für die Landeskirche Braunschweig komme dabei einer regionalen Aufarbeitungskommission für Niedersachsen zu, die im Jahr 2025 ihre Arbeit aufnehme. Außerdem, so der Landesbischof, gebe es trotz der Bemühungen um Aufarbeitung ein „Dunkelfeld“. Er bittet deshalb alle, die von sexualisierter Gewalt in der Kirche betroffen sind, aber noch nicht die Kraft gefunden haben, ihren Fall aktenkundig zu machen, sich zu melden.


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