Braunschweig. Eine Geschichte wie aus einem modernen Märchen. Die 101-jährige Ursula Kibat wohnt im Seniorenheim an der Wilhelmstraße und wollte ihrer 72-jährigen Tochter Marianne Siemann trotz Besuchsverbot und Kontaktsperre persönlich zum Geburtstag gratulieren. Kurzerhand büxt sie aus und ruft den Notruf. Den Beamten macht sie weiß, nicht im Heim zu wohnen, sondern zu Hause bei ihrer Tochter in Rühme. Für letztere sei es "Ein Schock" gewesen, wie sie sagt, ihre Mutter dort im Streifenwagen zu sehen. Im Gespräch mit regionalHeute.de schildert Marianne Siemann ihre Erlebnisse als Angehörige in der Corona-Zeit.
Erst seit zwei Wochen wohnte die einfallsreiche Dame zum Zeitpunkt ihres Ausbruchs in dem Pflegeheim. Nach Angaben der Polizei habe sie sich wohl aus einem Notausgang geschlichen, dann mit dem Handy den Notruf gewählt und um Hilfe gebeten. Die Polizisten zählten eins und eins zusammen und waren sich sicher, dass die orientierungslos wirkende Frau aus dem nahegelegenen Seniorenheim stammt. Doch sie bestritt dies vehement - Sie wohne bei ihrer Tochter in Rühme.
"Ich vermisse dich ganz dolle"
Die Polizei nahm Ursula Kibat also kurzum mit und brachte sie nach Rühme. Marianne Siemann schildert, dass sie auf der Terrasse saß, als plötzlich ein Kopf über den Gartenzaun blickte und fragte, ob sie Ursula Kibat kenne. Sie bejahte und erst als die 72-Jährige aufstand, bemerkte Sie den Polizeiwagen. "Viele lachen, aber das war eine richtige Schocksituation. Da saß meine Mutter im Polizeiauto mit dem Rollator hinten drin und ich sagte: 'Mama, wie kannst du denn weglaufen?' Ich würde dich jetzt so gerne umarmen aber ich darf nicht." Marianne Siemann schildert, dass ihre Mutter angefangen habe zu weinen: "Sie sagte: 'Ich vermisse dich einfach so sehr', ich sagte ihr: 'ich vermiss' dich auch ganz dolle." Siemann ist den Tränen nah, als sie ihr Erlebnis schildert: "Sie wollte einfach einen Kaffee trinken und mir zum Geburtstag gratulieren." Anschließend habe sie telefonisch die Heimleitung informiert. Auch die sei aus allen Wolken gefallen.
Wie sie aus dem Heim gekommen ist, sei ihr noch immer ein Rätsel: "Eine Notausgangstür muss natürlich offen bleiben. Aber die Tür geht so dermaßen schwer auf, ich weiß nicht, wie meine Mutter diese Kraft aufgebracht hat. Aber sie wollte wohl unbedingt zu mir."
Die plötzliche Isolation
Die Familie hat es mit der Krise gleich doppelt erwischt. Noch vor dem "Lockdown" sei Ursula Kibat zehn Tage wegen einer Lungenentzündung im Krankenhaus gewesen und ist von dort aus ins Pflegeheim an der Wilhelmstraße gekommen - Am 17. März kam dann das Besuchsverbot. Das Kosmetikstudio der 72-Jährigen wurde ebenfalls geschlossen. Für Mutter und Tochter eine furchtbare Zeit, wie Siemann erzählt: "Ich habe sie über zehn Jahre gepflegt, obwohl ich selber 72 bin. Meine Mama war immer der zentrale Mittelpunkt bei jeder Festivität, in jedem Urlaub war sie dabei, überall." Doch nach der Lungenentzündung habe sie feststellen müssen, dass es zu viel wurde: "Ich musste auf die Bremse treten, weil innerhalb unserer Familie viel, viel Leid passiert ist."
Wiedersehen im Fernsehen
Überrascht zeigt sich Siemann davon, dass der Vorfall ein solches Ausmaß an medialer Aufmerksamkeit angenommen habe. Der Fernsehsender RTL habe sie gestern spontan beim Einkaufen angerufen, als sie gerade eine BILD-Zeitung mit einem weiteren Bericht über die trickreiche Flucht ihrer Mutter kaufen wollte - "Und Schoki für ihre Mutter und die Heimleitung", ergänzt Siemann. RTL strahlte noch am selben Tag den Beitrag aus. Eine Begegnung am offenen Fenster, weit voneinander entfernt. Die 101-jährige Ursula Kibat am Fenster, gestützt von einer Pflegerin und Siemann auf der Straße, mit Blumen und Schokolade. "Und so wie ich wieder rein darf. Ich komme und besuche dich!", ruft Siemann nach oben.
"Ich habe eine Mission"
Doch bei allem Medienrummel um die ausgebüxte Seniorin, die Sehnsucht nach ihrer Tochter hatte, hofft die 72-jährige Kosmetikerin, dass eine zentrale Botschaft nicht untergeht: "Meine positive Mission ist jetzt einfach die Herzen der Menschen zu öffnen. Es gibt alte Menschen, die brauchen auch eure Nähe!" Vor denen, die jetzt in den Krankenhäusern und Pflegeheimen sitzen habe sie den höchsten Respekt: "Da muss einfach viel mehr Wertschätzung kommen. Die Heimleitungen, das Personal, Putzkräfte, Küchenhilfen, was da alles bewegt wird. Chapeau, da ziehe ich meinen Hut vor. Ich bin froh und dankbar, dass es euch gibt."
Siemann hat sich schon überlegt, wie sie diese Wertschätzung zum Ausdruck bringen kann - Sobald die Krise vorüber ist: "Ich habe mit der Heimleitung telefoniert und den Vorschlag gemacht, ob man nicht alle Angehörigen der Bewohner anschreiben könnte, damit sie entweder einen Kuchen machen oder zum Beispiel einen Salat. Dann könnten die gesamten Kräfte einfach mal für zwei bis drei Stunden Pause machen und sich von den Angehörigen bedienen lassen. Einfach als Dank und Wertschätzung." Wie die 72-jährige Kosmetikerin berichtet, sei sie damit nicht auf Taube Ohren gestoßen. Im Gegenteil.
"Ich hoffe, dass sie noch ein paar schöne Jahre hat"
Aus den Erzählungen von Siemann lässt sich schließen, dass dieses Abenteuer durchaus zu ihr passt: "Trickreich war sie schon immer, aber jetzt ist sie natürlich erstmal 14 Tage in Quarantäne." Abschließend freue sie sich einfach nur, dass es ihrer Mutter gut gehe und dass ihr nichts passiert ist: "Das hat für mich oberste Priorität. Es ist schön, wenn Menschen so alt werden. Und Mama geht es relativ gut und dafür bin ich dankbar. Ich hoffe, dass sie noch ein paar schöne Jahre hat." Trotz allem vermisse Siemann ihrer Mutter täglich - man habe schließlich ein Leben zusammen verbracht.
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