Stratum 0 Hackerspace – Willkommen im Neuland

von kulturblog38.net




Braunschweig. Die Rede vom Internet als Neuland war eines der großen Netzereignisse des vergangenen Jahres: Wir mussten belustigt, schockiert oder zustimmend die vermeintliche kommunikationstechnische Rückständigkeit einer ganzen Nation - oder zumindest ihrer Regierungschefin - zur Kenntnis nehmen.


Eher mehrheitsfähig erscheint folgende Aussage der Kanzlerin im gleichen Zusammenhang: "Ein Vorgehen, bei dem der Zweck die Mittel heiligt, bei dem alles, was technisch machbar ist, auch gemacht wird, verletzt Vertrauen, es sät Misstrauen". Auch dieser Satz fiel im Rahmen der Deutschland-Visite des US-Präsidenten Barack Obama im Jahr 2013 und auch dieser Satz bezog sich auf die NSA-Spähaffäre.


[image=2846]Bis heute mangelt es an einer entsprechenden politischen Umsetzung und vielleicht auch am politischen Willen – die Aussage selbst jedoch bleibt korrekt. Aber gilt dieser Warnhinweis nicht auch für den Durchschnittsuser des World Wide Web? Das Web 2.0 stellt uns mit rasanter Geschwindigkeit immer neue Möglichkeiten der virtuellen sozialen Vernetzung und des Konsums zur Verfügung. Kurzfristige Annehmlichkeiten und Bedürfnisbefriedigung verführen dazu, mittelfristige Gefahren in Hinblick auf Datenschutz und Persönlichkeitsrechte aufzuschieben oder auszublenden. Aber was bedeutet eigentlich "mittelfristig" in Anbetracht einer digitalen Kommunikation in Echtzeit?


[image=2864]Der Großteil von uns stellt sich diese Fragen überhaupt nicht mehr, die Nutzung des Internet ist zu einer völlig selbstverständlichen, westlichen Kulturtechnik geworden. Wir sind die Pauschalreisenden ins Neuland: Wir sind regelmäßig dort, finden Zerstreuung und Entspannung zu vermeintlich niedrigen Kosten. Aber das Wesen von Neuland, seine wirklich interessanten und schönen Flecken, aber auch seine Abgründe, bleiben verschlossen. Wie mache ich jetzt aus einem Pauschal- einen spannenden Aktivurlaub oder sogar eine kleine Bildungsreise? Wer nimmt mich mit, und an welchem Ort kann man eigentlich Neuland betreten?


Das Stratum 0 in der Hamburger Str. 273 A ist gleichzeitig nicht-kommerzieller Reiseveranstalter und Portal zu Neuland in Braunschweig. Die kürzlich neu bezogenen Räumlichkeiten sind der Sitz des gleichnamigen Vereins, wobei der Begriff Stratum 0 – im sog. Network-Time-Protocol (NTP) die Bezeichnung für eine zeitgebende Maschine – sofort das hier versammelte digitale Spezialwissen deutlich macht.


Das Stratum 0 ist ein Hackerspace. Der Verein beschreibt ihn als "Raum für technikaffine Entitäten, der die Gelegenheit bietet, sich auszutauschen", als eine "High-Tech-Werkstatt, um eigene Ideen zu verwirklichen und kreativ mit Technik umzugehen", und als einen "gemütlichen Treffpunkt, um die Hackerkultur zu pflegen". Über diese Hackerkultur habe ich während des "Lightning Talks", einer regelmäßigen Kurzvortragsreihe im Stratum 0, mit anwesenden Vereinsmitgliedern und Space-Nutzern gesprochen.


[image=2848 size-medium]Als erstes muss man sich daran gewöhnen, dass sich die Spacenutzer üblicherweise mit ihren jeweiligen Nicknames anreden. Das Klischee mag den Außenstehenden dabei an Überwachungsparanoia à la "23 - Nichts ist so wie es scheint" denken lassen, aber weit gefehlt: Die Nicknames sind ganz einfach Usus in der Szene und vermeiden im Onlinechat und im direkten Gespräch Missverständnisse, die durch gleiche Vornamen im Vereins-Mitgliederverzeichnis entstehen. Doch das ist nicht das einzige Klischee, mit dem die Hard- und Softwarefreunde von Stratum 0 aufräumen wollen. Stratum 0 ist im NTP die zeitgebende Maschine und so ticken auch die Vereinsmitglieder direkt am Puls der Zeit. Dabei müssen sie sich gegen ein nicht mehr zeitgemäßes, aber weit verbreitetes negatives Hackerbild wehren. So definiert der Duden das Hacken als "[…] mithilfe eines Rechners unberechtigt in andere Computersysteme eindringen" und bei den typischen Wortverbindungen auf Grundlage des Duden Textkorpus landet "kriminell" hinter "findig" und vor "jugendlich" in Verbindung mit hacken auf dem 2. Platz.


[image=2855]Die Hacker im Stratum 0 haben aber genauso wenig mit Kriminellen zu tun wie mit dem Hacker, der laut Duden den Boden im Weinberg lockert. "Hacker sind eigentlich nur Menschen, die kreativ mit Technik umgehen. Man analysiert Technik, schaut, was sie noch so kann und modifiziert und verbessert sie", beschreibt Chrissi^ aus dem Space das Grundprinzip des Hackens, das ursprünglich aus dem Hardware-Bereich stammt – im Übrigen aus dem analogen Hardware-Bereich: "Jeder, der mit Lego spielt und sich dabei nicht an die Anleitung hält, ist ein Hacker", unterstreicht Neo den Grundgedanken, und rohieb gibt ein weiteres prominentes Beispiel: "Mac Gyver war definitiv ein Hacker, gleiches gilt für viele Musiker. Hacken hat ganz viel mit Neugier zu tun".


[image=2858 size-thumbnail]Natürlich ist auch Software ein großes Thema im Stratum 0 und einige Mitglieder beteiligen sich regelmäßig an sog. Capture the Flag-Wettbewerben. Hierbei werden IT-Sicherheitslücken simuliert und müssen von den verschiedenen Teilnehmergruppen gefunden werden. Hier steht der Spaß am – häufig internationalen – Wettstreit im Vordergrund. Das ist nicht nur komplett legal, sondern kommt letztlich sogar der IT-Sicherheit zu Gute. Die Leute im Space legen daher auch besonderen Wert darauf, sich als Hackergemeinschaft von "Crackern" und "Freakern" zu distanzieren, die Passwörter klauen oder illegal Software manipulieren. Dieses kreative und gemeinwohlorientierte Selbstverständnis des Vereins wird auch von Braunschweiger Unternehmen wie BEL NET und LINET unterstützt.


[image=2857]Hinzu kommen die besondere Transparenz und Offenheit des Vereins. Jeder kann kommen – egal, ob Vereinsmitglied oder nicht, Technik-Freak oder Computer-Neuling – um mitzumachen, mitzureden, oder um vielleicht einfach nur einen Rat einzuholen. Darüber hinaus verfügt das Space in seinen neuen Räumlichkeiten neben dem großzügigen "Chillraum" u.a. über den bestens ausgestatteten "Frickelraum": 3D-Drucker, CNC-Fräse, Stickmaschine etc. sind auf Anfrage auch für interessierte Externe nutzbar. Die neuen Räume wurden von der Space-Crew übrigens in Eigenregie komplettrenoviert – von wegen weltfremde Computer-Nerds!


[image=2854]Zu den öffentlichen Veranstaltungen im Space gehören z.B. die monatlichen Lightning Talks. Das sind Kurzvorträge, deren buntes Themenspektrum von den Vereinsfinanzen über Exotisch-Humorvolles, wie die Mini-Lesung zur Computermusik, bis hin zum nicht vollständig einsteigerfreundlichen Impuls-Refereat "Dezentralität und XMPP im Internet of Things" reichen kann. Darüber hinaus regelmäßig im Stratum 0-Kalender zu finden: die "Microcontrollerholics", die anonyme Quadro-/Multikopter-Selbsthilfegruppe "Rotationszeit", das "Anime Referat" und das "Samstagsfoo", das für Neulinge den besten Einstieg in den Space bietet. Die Entwicklung der digitalen Handlungs- und Medienkompetenz in der Öffentlichkeit treibt der z.Zt. 67 Mitglieder zählende Verein darüber hinaus mit Kryptoparties und diversen Workshops voran. Demnächst ist geplant, sich am deutschlandweiten Bildungsprojekt "Chaos macht Schule" des Chaos Computer Clubs zu beteiligen.


Ob für den Tagesausflug oder für die große Reise: Wer in Braunschweig und Umgebung kritisch-reflektiert und in fachkundiger, lockerer und netter Begleitung nach Neuland aufbrechen möchte, ist im Stratum 0 Hackerspace genau richtig!


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Kontakt Stratum 0:


Hamburger Str. 273 A
Telefon: 2876924-5 (nicht durchgehend besetzt)
Fax: 2876924-6
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Fotos: Jan Engelken