Ein Wort an die Leserinnen und Leser
von WolfenbüttelHeute.de
zu Ostern 2012
Heinz-Günter Bongartz,
Weihbischof in Hildesheim
Einfühlen in Ostern
[image=5e1764d5785549ede64cd1ab]Ich habe einen Freund, der ist blind. Trotzdem ist seine große Leidenschaft das Lesen. Seine Bücher in Blindenschrift beeindrucken mich immer wieder. Solche Bücher sind größer als die gewöhnlichen. Sie sind aus dickerem Papier, fast schon aus dünner Pappe. Die Schrift besteht aus verschiedenen in das Papier eingestanzten erhabenen Punkten, die mit dem Finger gefühlt werden.
Ich bin immer wieder erstaunt, wie geschickt mein Freund diese Schrift fühlen kann. Er liest aus dem Buch so schnell und sicher vor, wie es ein anderer aus einem normal beschrifteten Buch mit den Augen nicht besser können kann.
Ich habe einmal selbst versucht, mit den Fingern einige Buchstaben zu ertasten. Es schien mir unmöglich. „Es fehlt dir das richtige Gefühl noch in den Fingern! Das musst du noch üben“, war die Antwort. Das Buch mit der Blindenschrift ist mir zum Bild geworden: Ob es nicht noch vieles Unentdeckte in meinem Leben gibt, in das ich mich erst noch einüben müsste, wollte ich es verstehen?
Ich glaube, diese Frage gilt besonders für die tieferen Schichten unseres Herzens, deren Schriftzeichen wir so oft nicht entschlüsseln können. Oft verstehen wir unser Innerstes nicht. Wir müssen lernen, unsere seelischen Empfindungen zu deuten, unseren Gefühlen inne zu werden. Unser seelischer Lernprozess ist nicht ungefährlich:
Der Schriftsteller Ulrich Schaffer spricht davon:
Zu fühlen/ist gefährlich./Die zarte Bewegung/der eigenen Seele zu spüren/ ist ein unüberschaubares Risiko./Sie tut sich auf, sie will atmen,/wortlos sucht sie nach Verständnis. Sie ist wie eine/der ersten Blumen im Frühjahr: /blüht sie nur einen Tag zu früh, /holt sie der Frost noch./Ein Wort zu früh, /eine Bewegung, /ein Gespräch, /ein Blick, /sie alle/gefährden. (Ulrich Schaffer, Lesebuch, Stuttgart 1989, S. 153)
Das wünsche ich mir: Die versteckten Sehnsüchte meiner Seele zu entdecken und wahrzunehmen. Meine Seele soll atmen, wachsen können, voller Hoffnung sein, stark werden, um nicht zu resignieren. Sie soll Mut haben, um die äußere Wirklichkeit mit Liebe wandeln zu können.
Aber dann:
ein ungutes Wort,
eine schlechte Erfahrung,
ein misslungener Kontakt mit anderen,
ein enttäuschendes Gespräch,
und die Seele liegt am Boden, in ihr macht sich ein Gefühl der Leere breit. Wörter, Erfahrungen und Begegnungen können verhindern, dass die Seele verkümmert, sie für mich „unleserlich“ wird und ich mich nicht mehr in sie einfühlen kann.
Ich erinnere mich an das Buch mit der Blindenschrift, die ich nicht entziffern kann. Das Einfühlungsvermögen meiner Fingerspitzen ist nicht dafür trainiert. Ganz langsam müssten die Finger wahrnehmen lernen, Punkt für Punkt, somit Buchstabe für Buchstabe. Nur so lernt man verstehen, was die Punkte bedeuten.
Ostern, Auferstehung Jesu ist in diesem Sinne die Lehrstunde für das rechte Einfühlen in unsere Seele.
„Rühr mich nicht an!“ sagt der Auferstandene zu Maria Magdalena. Wozu die Seele berufen ist, das kann man nicht abtasten wie eine Blindenschrift mit den Fingern.
Zwei Fragen, die Jesus an Maria Magdalena (Joh 20,11-18) stellt, sind dafür der richtige Weg, um seine Seele wahrnehmen zu können:
Warum weinst du?
Was macht dich mutlos?
Was tut dir weh?
Worin liegt deine Enttäuschung?
und
Wen suchst du?
Wonach ruft dein Inneres?
Wonach sehnt sich deine Seele?
Was soll für dich gelten?
Auf welches Fundament soll dein Leben stehen?
Indem Maria Magdalena so fragt, fühlt sie bei sich, dass sie angesprochen wird, fühlt sie, dass sie beim Namen gerufen wird.
Unter diesen Fragen lernt sie sich selbst neu sehen. Sie sieht, dass ihr Leben bei Gott aufgehoben ist.
Das ist eine Lehrstunde für das rechte Einfühlen in die Seele, um so zu entdecken, welche Verheißung über unserem Menschsein steht. Zwei Übungen werden uns empfohlen: aussprechen lernen, was das Leben gefährdet und nachdenken und sagen lernen, was wir wirklich suchen und wonach wir uns sehnen.
Dann lässt sich mit dem Blick auf das Leben Jesu lernen, dass in und durch diese Fragen Gott selbst in unserem Inneren als unmittelbare Erfahrung Wohnung nimmt. Durch einen Umgang mit den Fragen unserer Seele können wir innerlich ertasten: Gott hat uns den Anfang eines ewigen Glücks geschenkt. Unser Leben ist nicht zerstörbar, weil wir mit unserer Seele, mit unserem Namen, mit unserem ganzen Ich für immer zu Gott gehören.
Heinz-Günter Bongartz, Weihbischof