Region. Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie hat sich auch in Niedersachsen zunehmender Protest gegen die zur Eindämmung der Pandemie erlassenen Verordnungen formiert. Neben den sogenannten "Hygienedemos", die jüngst auch in Braunschweig stattfanden, hat sich die selbsternannte Partei "Widerstand 2020" als einer der Hauptakteure herausgestellt, der sich Anfang Mai auch Ulf Küch, Autor und ehemaliger Leiter des zentralen Kriminaldienstes in Braunschweig anschloss. Hierzu gesellen sich auch die Anhänger verschiedenster Verschwörungstheorien, die vorher zum Teil völlig unpolitisch waren. Wie ist diese Entwicklung zu bewerten - und welche Rolle spielen die Medien dabei? regionalHeute.de hat mit einer Psychologin der TU Braunschweig und einem Medienwissenschaftler der Ostfalia gesprochen.
Aktuell werde seitens der Sicherheitsbehörden die Entwicklung von Gruppierungen wie "Widerstand 2020" im Zusammenhang mit den Protesten auch im Hinblick auf eine mögliche Radikalisierung gegen die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus aufmerksam beobachtet. Die Vorwürfe seien ähnlich wie bei den sogenannten. „Hygienedemos" in Berlin: Demonstrierende fordern dort jede Woche unter anderem die „Beendigung des Notstands-Regimes“ und die „Verhinderung obrigkeitsstaatlicher Schikanen“. Dabei finden sich plötzlich Menschen zusammen, die im Regelfall eher gegeneinander demonstrieren: "Bei den Teilnehmern dieser Veranstaltungen handelt es sich um ein heterogenes Gemisch aus Linken, Rechten, Esoterikern, Impfgegnern und bürgerlichem Klientel", zählt Werner Steuer auf. Er ist Pressesprecher des Niedersächsischen Innenministeriums.
Der Verfassungsschutz, der dem Innenministerium untersteht, sei angesichts der aktuellen Entwicklung ebenfalls hellhörig geworden: "Natürlich ist die aktuelle Entwicklung im Zusammenhang mit den teils verschwörungstheoretisch geprägten Protesten gegen die Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus ein Thema für den Verfassungsschutz. Dies gilt insbesondere für extremistische Bestrebungen, die versuchen, sich an den Protesten zu beteiligen und insbesondere den bürgerlichen Teil der Demonstranten für sich zu vereinnahmen", erklärt Steuer. Aussagen über eine Zunahme verschwörungstheoretischer Tendenzen innerhalb der recht jungen Protestbewegungen seien auch aufgrund der Heterogenität dieser Gruppen schwer zu treffen.
Hilflosigkeit in der Krise
Die Verschwörungstheorien, die innerhalb der Corona-Pandemie entstanden sind, haben laut Harald Rau, Professor für Kommunikationsmanagement an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften in Salzgitter, eines gemeinsam: "Wir suchen nach Möglichkeiten, Komplexität zu reduzieren. So ist unser Gehirn angelegt. Das ist das ganze Geheimnis. Verschwörungstheorien sind Angebote zur Komplexitätsreduktion, die wir dann dankend annehmen." Prof. Dr. Beata Muschalla, Psychologin an der TU Braunschweig führt aus:
"Die aktuelle Pandemie-Situation ist neu und bedeutet Ungewissheit und Unvorhersagbarkeit. Das verunsichert und kann Kontrollverlusterleben bewirken. Gibt es als Möglichkeit zur Linderung der Unsicherheit eine neue Theorie, die konkrete feste Überzeugungen vorgibt - statt wie die Wissenschaft täglich mit neuen und gegebenenfalls auch widersprüchlich erscheinenden Befunden aufzuwarten (was auch für Wissenschaft normal ist bei bislang gering erforschten Phänomenen) - besteht die Möglichkeit, dass Menschen diese Theorie als die Wahrheit betrachten. Sie kann das Gefühl von Kontrollverlust mildern.
Die Situation um die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Proteste sei nicht zuletzt auch auf Hilflosigkeit angesichts der komplexen Situation zurückzuführen: "Wir reden ja täglich über Begriffe wie Antikörper, Impfstoffe, die Reproduktionszahl und werden mit ganz vielen medizinischen Fachbegriffen konfrontiert. Wir haben dann das Problem, dass wir das nicht mehr verstehen und suchen einen einfach Weg, um uns die Lage begreifbar zu machen."
Haben Extremisten aktuell leichtes Spiel?
Die Sorge einer möglichen Radikalisierung der Proteste gegen die "Beendigung des Notstands-Regimes" und die "Verhinderung obrigkeitsstaatlicher Schikanen", wie das Innenministerium die Forderungen der Protestler zusammenfasst, könne Rau gut verstehen: "Zu dem Bedürfnis nach Orientierung kommt ja, dass insbesondere die Rechtsextremen - wir kennen das auch im Linksextremen, Rechts aber verbreiteter - gerne als 'Vereinfacher' der Welt sehen", schildert Rau und ergänzt: "Rechtsextreme nutzen insbesondere die Corona-Angst für ihre Zwecke und wollen die Welt vereinfachen und Komplexität reduzieren. Deswegen passen Verschwörungstheorien wunderbar zum Rechtsextremismus."
Das Bündnis gegen Rechts warnte bereits im Vorfeld der ersten "Hygienedemo" in Braunschweig vor derartigen Tendenzen. (regionalHeute.de berichtete)
Welche Rolle spielen die Medien?
"Wenn ich zu meiner Zeit eine Tageszeitung angesehen habe, konnte ich klar trennen zwischen Berichterstattung und einer Kolumne, einer Meinung. Diese Trennung ist im Internet komplett aufgehoben", beschreibt Rau die moderne Mediensituation. Er spricht vom Phänomen der "Disintermediation", ein Begriff aus den Wirtschaftswissenschaften, der den Wegfall einzelner Akteure in einer Wertschöpfungskette beschreibt. Ein Autoersatzteil wird nicht vom Produzenten an den Autohersteller, von da aus zum Großhandel und dann über den Einzelhandel an den Kunden verkauft, sondern geht direkt vom Produzenten an den Kunden.
"Wir zerstören ein Mediensystem das über Jahrzehnte etabliert war."
Rau überträgt dies auf die Medien: "Disintermediation ist ein Phänomen, dass seit dem Auftreten des Medienkonsums jüngerer Menschen über soziale Medien ein größeres geworden ist. Wir hatten jahrzehntelang ein Mediensystem was relativ klar war." Nachrichten wurden ausgewählt, eingeordnet, redaktionell bearbeitet und über Print, Funk und Fernsehen ausgestrahlt. "Es gab eine Schnittstelle zwischen allen Teilsystemen und dem Gesamtsystem der Gesellschaft. Kommunikation kann inzwischen ungefiltert durchdringen."
Zu viel Angst, zu wenig Lösungen
"Was die Berichterstattung angeht, sollte die Menge der angstschürenden Artikel reduziert werden", meint die Psychologieexpertin Muschalla. Der Einfluss von Verschwörungstheorien auf Menschen könne hoch sein, wenn sie Angst haben. Klare, eindeutige und nicht widersprüchliche Verhaltensempfehlungen als mögliche Maßnahmen zur Angstreduktion seien hilfreich. Muschalla fährt fort: "Der öffentliche Diskurs sollte sich mehr mit dem Umgang und Bewältigungsmöglichkeiten der Pandemie beschäftigen, als mit den Ursachen und Gefahren", hierbei greift sie auch die Informationsvermittlung in den sozialen Medien an: "In der Regel funktionieren soziale Medien so, dass Inhalte mit emotionalen Themen sehr präsent sind. Zudem werden Lesern häufig Artikel vorgeschlagen, die denen ähneln die sie bereits gelesen haben. Auf diese Weise nehmen manche Leser die Debatte nur einseitig wahr.
Die Bildung hinkt hinterher
Einig sind sich Muschalla und Rau bei der scheinbar fehlenden Vermittlung von Medienkompetenzen zum Umgang mit der neuen Informationsflut: "Um mit der komplexen Berichterstattung wie Verordnungen der staatlichen Akteure und Pandemie-Statistiken umgehen zu können, benötigen Menschen Kompetenzen." Dazu gehörten im Falle der Corona-Pandemie nicht nur Grundkenntnisse in Epidemiologie, sondern auch das Wissen um Funktionen, Möglichkeiten und Grenzen des politischen Systems und von Ministerien.
"Die Medienwelt hat sich so stark verändert, dass das Bildungssystem zu langsam ist, um das schnell genug zu adaptieren."
Harald Rau zeigt sich bisweilen regelrecht schockiert darüber, was selbst unter seinen Studenten und im Bekanntenkreis für Argumente ausgetauscht werden: "Verschwörungstheorien werden zum Risiko, wenn sie nicht mehr eingeordnet werden. Das schlimmste ist, wenn Dummheit Plattform bekommt. Und das ist ein Ergebnis der Disintermediation. Es ist erschreckend, wie wenig Geist in der Welt ist. Man sitzt ja nur kopfschüttelnd davor." Beispielhaft führt er ein Foto an, dass er erhalten habe - Es zeigt eine Desinfektionsmittelflasche von 2016, die in ihrem Audruck verspricht, gegen Coronaviren wirksam zu sein. Schlussfolgerung: Das Virus gab es schon immer, die Maßnahmen dagegen sind nur Hysterie. Das Bild verbreitete sich rasend schnell. Mit einer journalistischen Einordnung dieser Aussage wäre jedoch klar gewiesen, dass die Familie der "Coronaviren" seit den 60ern bekannt ist, jedoch nicht der Erreger der aktuellen Pandemie.
Eine Chance für die Medien
"Bei aller Angst vor dieser Pandemie und aller kritischen Beleuchtung von Corona müssen wir ja doch anmerken, dass in dieser Zeit die Nutzung von journalistischen Medien dramatisch zugenommen hat. Für mich ist diese Krise ungeheuer wichtig, weil wir die Chance kriegen zu erfahren, wie wichtig abgestimmte, journalistische Kommunikationsroutinen für eine aufgeklärte demokratische Gesellschaft sind", sagt Harald Rau. Er hoffe, dass die Krise dabei hilft, den Wert journalistischer Medien zu erkennen: "Wir haben uns dieses Mediensystem erkämpft, wir hatten Zensur und haben das überwunden nach dem Zweiten Weltkrieg. Wir stehen aktuell im Risiko etwas sehr gutes zu verlieren."
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