Die letzten Überlebenden: Alfred Rülfs Leben in Israel

Alfred Rülf ist einer von zwei Holocaustüberlebenden aus Wolfenbüttel, die heute noch über ihr Leben berichten können. 1934 musste die Familie Rülf Deutschland verlassen - trotz Jahrhunderte langer Tradition in der Region.

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Heute ist Alfred Rülf 98 Jahre alt und lebt in Israel. 1934 musste seine Familie Wolfenbüttel verlassen.
Heute ist Alfred Rülf 98 Jahre alt und lebt in Israel. 1934 musste seine Familie Wolfenbüttel verlassen. | Foto: Rami Rülf

Wolfenbüttel. Am 8. April beging Israel den Gedenktag Jom haScho'a. Der "Tag des Gedenkens an Holocaust und Heldentum" wurde geschaffen, um denjenigen zu Gedenken, die ihr Leben durch den Holocaust und den Widerstand gegen das Naziregime verloren. Heute, 76 Jahre nach dem Ende des Dritten Reichs, leben nur noch zwei jüdische Zeitzeugen, die ursprünglich aus Wolfenbüttel kamen und durch Flucht der Gaskammer entkamen: Lore Eppy-Kirchheimer und Alfred Rülf. regionalHeute.de hat sich mit den beiden unterhalten. Über Flucht, Vertreibung, ihre Erinnerungen an Wolfenbüttel und ihr Leben nach dem Zweiten Weltkrieg. Heute Lesen Sie über Alfred Rülf, der als Kind ins heutige Israel flüchtete.


Die jüdische Familie Rülf war 1934 keine unbekannte im damaligen Freistaat Braunschweig. Ihr Stammbaum lässt sich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen, sie stellten wichtige Säulen der jüdischen Gemeinde dar: Vorfahren von Alfred Rülf waren Landesrabbiner und Ärzte, von Gutmann Rülf steht bis heute ein Denkmal auf dem jüdischen Friedhof in Braunschweig. Der Vater des heute 98-jährigen Alfred Rülf diente dem Deutschen Kaiserreich im Ersten Weltkrieg und wurde später Zahnarzt in Wolfenbüttel. 1933, in dem Jahr als die Nazis an die Macht kamen, wurde Rudolf Rülf die Lizenz entzogen.

In diesem Haus lebte die Familie Rülf bis 1934. Unter dem Druck der Naziherrschaft musste die alteingessene jüdische Familie ihre Heimat verlassen.
In diesem Haus lebte die Familie Rülf bis 1934. Unter dem Druck der Naziherrschaft musste die alteingessene jüdische Familie ihre Heimat verlassen. Foto: Rami Rülf


Er legte noch einmal Beschwerde bei der kassenärztlichen Vereinigung ein, er verwies auf seine Taten im Ersten Weltkrieg, er habe doch seinem Land gedient, sei sogar ausgezeichnet worden. All das nutzte nichts. In einem Schreiben, dass die Familie Rülf regionalHeute.de zur Verfügung gestellt hat, verweigern die Nazis ihm die Arbeitserlaubnis. Darin heißt es "Ihre Tätigkeit während des Weltkrieges kann auch unter den von Ihnen mitgeteilten Umständen nicht als eine Ihre nicht-arische Abstammung ausreichend ausgleichende ärztliche Tätigkeit [...] angesehen werden." Die Lizenz wurde ihm also entzogen. Weil er Jude war. Seine Auszeichnungen und die Tätigkeit als Chefarzt im Lazarett an der Westfront nutzten ihm nichts.

Über Saarbrücken nach Palästina


1934 stiegen Rudolf und Alfred Rülf in einen Zug und verließen Wolfenbüttel. Sie sollten nicht mehr zurückkehren. In einem fiktiven Abschiedsbrief, der auf der Seite stolpersteine-wolfenbüttel.de einzusehen ist, verabschiedet sich Alfred Rülf von einem Freund. Der Abschied fiele ihm nicht schwer: Seit er 1933 auf die Große Schule kam sei er zunehmend schikaniert worden, die Lehrer machten aus ihrer braunen Gesinnung keinen Hehl mehr. Der Weg nach Palästina gebe Hoffnung auf ein Leben in Sicherheit. Ein Leben, auf das er und seine Familie in Wolfenbüttel keine Hoffnung mehr hätten. Doch auch in der neuen Heimat drohten die Nazis die Rülfs einzuholen.

1942 stand das Deutsche Afrikakorps in Ägypten, wenige Tagesmärsche vom damals britischen Mandatsgebiet Palästina entfernt. Man habe damals den Krieg verfolgt, erzählt Alfred Rülf, vor allem übers Radio. "Wir hatten natürlich Angst", so der heute 98-Jährige. Wäre Rommel so weit gekommen, hätten sie sich nicht kampflos ergeben. Soweit musste es allerdings nicht kommen: Am Ende schlugen die Briten die Nazis zurück, Hitlers Afrikafeldzug endete in einer Katastrophe. Rülf meldete sich später freiwillig für die Britische Marine, war im Mittelmeer im Einsatz, um gegen die Deutschen zu kämpfen. Das Kriegsende erlebte Alfred Rülf in Norditalien, in Triest. Er war Übersetzer geworden, immerhin war Deutsch seine Muttersprache.

Die Hoffnung auf ein sicheres Leben


Als Israel sich 1948 für unabhängig erklärte, brach um Familie Rülf herum abermals ein Krieg aus. Alfred wurde einberufen, mit seinen Erfahrungen in britischen Diensten sollte er die Freiwilligen, die später die israelische Armee formen sollten, mit ausbilden. Nach dem Unabhängigkeitskrieg wurde er in einer Organisation tätig, die Land kaufte, um jüdische Siedlungen zu gründen. Hier arbeitete er auch als Bauarbeiter, fuhr eine Planierraupe. Froh sei man damals gewesen, erzählt Rülf. "Nach 3.000 Jahren hatten wir Juden endlich wieder einen eigenen Staat." Er selbst zog in ein Dorf in der Nähe von Haifa und begann später in einer Fabrik zu arbeiten, die Salz aus Meerwasser gewann.

Hier lernte er seine Frau kennen, eine polnische Jüdin, die ebenfalls als Kind geflohen war. Über London kam sie 1947 nach Israel, traf Alfred und heiratete ihn einige Monate später. Sie ließen sich in Naharyya nieder, einer Küstenstadt nördlich von Acre. Das Paar bekam drei Kinder, die Zwillinge Rami und Yochanan, sowie eine Tochter Tamy.

Rami Rülf am Denkmal seines berühmten Vorfahren Gutmann Rülf. Die Familie war seit Jahrhunderten in der Region vertreten, bis sie schließlich ins heutige Israel flüchten mussten.
Rami Rülf am Denkmal seines berühmten Vorfahren Gutmann Rülf. Die Familie war seit Jahrhunderten in der Region vertreten, bis sie schließlich ins heutige Israel flüchten mussten. Foto: Rami Rülf


Heute lebt Alfred Rülf in einem Dorf nahe Naharyya, das mit 70.000 Einwohner heute in etwa so groß ist wie Wolfenbüttel. Als es 1934 von deutschen Juden gegründet wurde, sei es zunächst nicht mehr als ein Dörfchen gewesen, erinnert sich Alfred Rülf. Seine Kinder leben nach wie vor in seiner Nähe, geistig ist er noch auf der Hohe. Das merkt man auch im Gespräch mit dem 98-Jährigen, der problemlos zwischen Hebräisch, Englisch und Deutsch wechselt. Seine Kinder waren erst vor einigen Jahren in Wolfenbüttel, um bei der Verlegung des Stolpersteins für die Familie Rülf dabei zu sein. Rami Rülf, der beim Interview dabei ist, will definitiv regelmäßig zurückkehren, möglichst frühzeitig. Immerhin hat seine Familie Jahrhunderte vor dem Holocaust spuren in der Region hinterlassen.


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