Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser! Märchen sind ein fester Bestandteil unserer Kultur. Generationen sind mit den Abenteuern von Prinzessinnen, Hexen und tapferen Rittern aufgewachsen. Auch ich habe in meiner Kindheit Märchen geliebt. Und auch heute mag ich die alten Erzählungen. Doch neulich habe ich die alten Geschichten aus einem ganz anderen Blickwinkel betrachtet.
Der vierjährige Sohn einer Bekannten berichtete mir mit strahlenden Kinderaugen, dass ihm seine Oma die Geschichte von Rotkäppchen vorgelesen hat. Begeistert erzählte mir der Kleine, wie der böse Wolf Rotkäppchen und die Großmutter gefressen hat und der Jäger später den Bauch des Wolfs wieder aufschnitt, um die Gefressenen zu befreien. Ende gut, alles gut? Naja, zumindest für Rotkäppchen und die Oma ist es ganz gut gelaufen. Der Wolf blieb dann leider doch auf der Strecke…
Märchenhaftes Grauen
Während der kleine Junge mir also von Rotkäppchens haarsträubendem Abenteuer berichtete, konnte ich nicht umhin, über die Härte dieser Geschichten nachzudenken. Ja, in der Welt der Grimm'schen Märchen geht es wirklich nicht gerade zimperlich zu. Die alten Erzählungen sind ein Kaleidoskop aus düsteren und blutigen Abenteuern, bösartigen Figuren und abenteuerlichen Rettungsaktionen. Und sie sind beliebt, wie eh und je...
Bei all den Versuchen, Kinder von Grausamkeiten fernzuhalten, wundere ich mich also, dass die guten, alten Märchen mit all ihren gruseligen Details noch immer erzählt werden. Grimmige Hexen, blutrünstige Räuber und drastische Strafen gehören da zum festen Repertoire. Nicht, dass ich etwas gegen Märchen habe. Ganz im Gegenteil, ich mag sie auch noch als Erwachsener. Dennoch habe ich mich mal in der Märchenwelt umgeschaut und bin auf so manche Szenen gestoßen, denen man heute vermutlich die Altersfreigabe "ab 16" verpassen würde.
Das Fressen von Rotkäppchen und der Großmutter durch den bösen Wolf und die anschließende chirurgische Meisterleistung des Jägers hatten wir bereits. Betrachten wir also mal Hänsel und Gretel: Hier werden zwei Kinder erst von ihren eigenen Eltern im Wald ausgesetzt und dann von einer alten Frau gekidnappt, weil diese die Kinder später im Ofen rösten und verspeisen möchte. Am Ende landet die Alte selbst im Ofen.
Und was ist mit Schneewittchen? Die schöne Königstochter muss sich im Wald bei den 7 Zwergen verstecken, weil ihr die böse Stiefmutter aus purem Neid nach dem Leben trachtet und ihre Eingeweide will. Happy End für Schneewittchen, aber ein böses Ende für die gemeine Stiefmutter. Die muss sich in Eisenpantoffeln zu Tode tanzen.
Und dennoch: Trotz ihrer harten Kanten und düsteren Ecken üben diese Geschichten eine einzigartige Faszination aus. Bei Groß und Klein. Sie sind ja auch ein bisschen ein Spiegel ihrer Zeit und erinnern uns vielleicht auch daran, dass das Leben eben nicht immer ein Zuckerschlecken ist. Vielleicht sind es gerade diese Abgründe, die uns in den Bann ziehen und uns zeigen, dass am Ende das Gute siegen kann, egal wie finster der Weg dorthin ist.
Einen schönen und märchenhaften DONNERstag wünscht Ihnen
Ihre Anke Donner
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