Goslar.Der im Juni 2019 von Niedersachsens Umweltminister Olaf Lies gegründete Expertenkreis Oker-Harlingerode hat eine weitere Etappe erreicht und sich sogenannte Ausbreitungsrechnungen vorstellen lassen. Das berichtet das Niedersächsiche Ministerium für Umwelt, Energie, Bauen und Klimaschutz.
Im Sommer wurde der Expertenkreis nun über die Schadstoff-Ausbreitungsrechnungen informiert. Es handele sich dabei um sehr aufwendige Untersuchungen, für die zunächst ein Modell der Windverhältnisse in der Region anzufertigen war. Finanziert wurden die Computerberechnungen von der ARGE PRIBOH, einer Arbeitsgemeinschaft der Unternehmen vor Ort. Das staatliche Gewerbeaufsichtsamt Braunschweig und das staatliche Gewerbeaufsichtsamt Hildesheim mit der dort angesiedelten Zentralen Unterstützungsstelle Luftreinhaltung, Lärm, Gefahrstoffe und Störfallvorsorge (ZUS LLGS) haben die Erstellung der Untersuchungen eng begleitet und auch die Ergebnisse geprüft.
Durchführendes Ingenieurbüro ist die Firma METCON Umweltmeteorologische Beratung mit Sitz in Pinneberg, die Gründungsmitglied im ENfU-Expertennetzwerk für Umwelt ist.
Ergebnisse der Ausbreitungsrechnungen
Die Rechnungen seien für den Expertenkreis äußerst interessant gewesen. Aus den zwei Szenarien konnten wichtige Erkenntnisse gewonnen werden. Am wichtigsten seien die Ergebnisse aus dem realen Szenario, das auf den gemessenen Emissionen der Unternehmen basiert. Dieses Szenario gebe Aufschluss darüber, inwiefern die industriellen Anlagen die Schadstoffbelastungen in der Region verursachen.
Die Konzentrationen in der Luft sei für alle Stoffe als gering zu bezeichnen. Die Deposition am Boden sei insgesamt höher, die Ablagerungen bleiben jedoch deutlich unter den anzuwendenden Grenzwerten. Im Falle der Depositionen von Cadmium werden für ein Betriebsgelände erhöhte Werte berechnet, jedoch gelten hier auch höhere Grenzwerte als im Bereich von Wohnbebauung. Für die bewohnten Gebiete liegen keine erhöhten Schadstoffbelastungen vor, auch in allen sechs speziell betrachteten Wohnbereichen in der Region (die Straßen Ginsterbusch, Wolfenbüttler Str., Kielsche Str., Am Hüttenberg, Kaltenfelder Str. und Am Müllerkamp) werden maximal 10 Prozent des Grenzwerts erreicht.
Insgesamt wertet der Expertenkreis die Ergebnisse als sehr erfreulich.
Die bei den Ausbreitungsrechnungen errechneten Werte wurden mit den tatsächlichen jährlichen Schwermetalldepositionen, die seit 1977 im „Immissionsmessprogramm Oker- Harlingerode" gemessen werden, verglichen. Wie vom Expertenkreis im Januar 2021 berichtet, liegen an einigen Messstationen im Grün- oder Brachland (besonders am Messpunkt „OG 5" im Kalten Feld) hohe Belastungen vor allem an Blei und Cadmium vor.
Der Expertenkreis stellt nun fest:
Die Ausbreitungsrechnung für die tatsächlichen Emissionen hat deutlich geringere Beiträge an den Messpunkten errechnet. Ein großer Anteil der dort gemessenen Immissionen lässt sich daher nicht mit den bekannten Emissionen der beteiligten Betriebe erklären. Deshalb ist nun zu hinterfragen, was die Ursachen der höheren Messwerte sein könnten.
Für die Genehmigungsbehörde, das Staatliche Gewerbeaufsichtsamt Braunschweig, sehr aufschlussreich sind die Ergebnisse aus dem zweiten, theoretischen Szenario, das eine "Was wäre, wenn"-Betrachtung vollzieht: Wie hoch wären die Schadstoffeinträge in der Region, wenn die Unternehmen die für den Anlagenbetrieb festgelegten Obergrenzen für Emissionen ein ganzes Jahr lang vollständig ausreizen würden? In diesem Fall würden viel höhere Konzentrationen in der Luft und Depositionen am Boden anfallen. Die Ausbreitungsrechnung zeigt für dieses „Worst Case"-Szenario im Bereich einiger Anlagengelände und Wohnbereiche teils deutliche Überschreitungen der Grenzwerte, besonders für die Depositionen von Cadmium und Blei. In der Realität würden die zulässigen Emissionsbegrenzungen bei weitem nicht ausgeschöpft, sondern häufig sogar sehr deutlich unterschritten.
Auswirkungen der Erkenntnisse aus den Ausbreitungsrechnungen
Um den hier theoretisch berechneten Überschreitungen auch in der Realität vorzubeugen, sollen nun die für die betroffenen Anlagen genehmigten Grenzwerte reduziert werden. Das staatliche Gewerbeaufsichtsamt Braunschweig hat damit begonnen, Anordnungen zu schreiben, um die Genehmigungen anzupassen, also die Grenzwerte auf das erforderliche Maß abzusenken. Die Anordnungen sollen zeitnah erlassen werden, was für bestimmte Anlagentypen auch öffentlich bekannt zu geben ist. Die Unternehmen zeigen sich hierbei insgesamt kooperativ, so die Genehmigungsbehörde.
Die Unternehmen berichten, dass es sich für sie nur auf dem Papier um eine Verschärfung handele, da sie mit den realen Betriebsbedingungen die strengeren Emissionsbegrenzungen bereits einhalten und teils sogar deutlich unterschreiten. Was dem staatlichen Gewerbeaufsichtsamt Braunschweig besonders wichtig ist: bei Genehmigungen in der Region - ob Änderungsgenehmigungen oder Neuansiedlungen von genehmigungsbedürftigen Anlagen - wird die Behörde zukünftig häufig Ausbreitungsrechnungen für bestimmte Stoffe wie, Blei, Cadmium oder Nickel fordern. So kann den besonderen örtlichen Verhältnissen Rechnung getragen werden und die Anwohner müssten auch in der Realität keine Überschreitungen befürchten.
Wie stuft der Expertenkreis die Immissionssituation vor Ort ein?
Ein Zwischenfazit des Expertenkreises, der seine Arbeit voraussichtlich im Februar 2022 abschließen wird, lautet: Der bisherige anderthalbjährige Austausch zwischen den verschiedenen Experten und Betroffenen zeigt, dass die Situation in Oker-Harlingerode keine akute Gefahr darstelle. Die detaillierten Untersuchungen konnten nun zeigen, in welchen Fällen Grenzwerte zu senken sind. Deutlich ist auch geworden, worauf das Augenmerk im Weiteren zu richten ist. Nachdem die Ausbreitungsrechnung gezeigt hat, wie gering der Beitrag der Emissionen aus den produzierenden Anlagen ist, werden die Themen Altlasten und Verwehungen näher betrachtet werden.
Die Ausbreitungsrechnungen betrachten für die Region Oker-Harlingerode die Verteilung von Staub, Blei, Cadmium, Nickel und Dioxin infolge des Betriebs industrieller Anlagen. Für die genannten Stoffe werden jeweils die Konzentrationen in der Luft sowie die Ablagerungen auf dem Boden (Depositionen) berechnet. Dabei wurden zwei Szenarien betrachtet: Erstens ein reales Szenario, bei dem die Schadstoffausbreitung aufgrund der tatsächlich gemessenen Emissionen der Betriebe berechnet wurde.
Zweitens ein theoretisches Szenario, bei dem die Schadstoffausbreitung fiktiv für den Fall ermittelt wurde, dass alle Unternehmen ein ganzes Jahr lang die ihnen maximal genehmigten Schadstoffmengen ausstoßen würden. Umweltminister Lies begrüßt den Abschluss dieser neuen Untersuchungen: „Wir erhalten immer mehr Klarheit über die Immissionssituation in der Region. Die Ausbreitungsrechnungen lassen eine besonders detaillierte Betrachtung zu."
Weitere Gutachten geplant
Für das nächste halbe Jahr steht auch die Auseinandersetzung mit weiteren Untersuchungen an - Geruchsgutachten und umweltmedizinischem Gutachten, wobei letzteres pandemiebedingt möglicherweise nicht rechtzeitig fertig sein werde. Um über bestehende Kontroll- und Regulierungsmaßnahmen aufzuklären, aber auch um bleibende Wissenslücken zu identifizieren und wenn möglich zu schließen, hat sich die transparente Information und Zusammenarbeit von Behörden, Unternehmen und der Bevölkerung bewährt. Dem Expertenkreis ist es zudem gelungen, sich auch gut virtuell aufzustellen: Die bisher drei pandemiebedingt online stattfindenden Treffen sind fast noch intensiver besucht.
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