Goslar. Ein Gespräch mit Volker Weißbach, Leiter der sozialpädagogischen Dienste des Landkreises Goslar, über das oftmals schlechte Image von Jugendämtern.
Jugendämter genießen deutschlandweit einen eher schlechten Ruf. Landauf landab haben die rund 600 Jugendämter mit nahezu immer gleichlautenden Vorwürfen beziehungsweise Vorurteilen zu kämpfen: sie schreiten zu spät ein und holen Kinder nicht aus den Familien. Sie schreiten zu früh ein und holen die Kinder ungerechtfertigt aus den Familien. Sie schreiten gar nicht ein – und Kinder sterben. Auch die Mitarbeiter des Jugendamtes im Landkreis Goslar kennen derartige Vorwürfe und wissen um die negativen Assoziationen vieler Bürger. Volker Weißbach, Leiter des Fachdienstes Sozialpädagogische Dienste des Landkreises Goslar, geht im Interview auf die größten Herausforderungen der Jugendämter ein, nennt Fallzahlen und erklärt, was aus seiner Sicht helfen könnte, um das Bild von Jugendämtern in der Öffentlichkeit zu verbessern.
Herr Weißbach, Sie können wahrscheinlich ein Lied ob des großen Spannungsfeldes singen, denen sich Jugendämter im Zuge ihrer täglichen Arbeit ausgesetzt sehen. Häufig verbindet die Bevölkerung keine positiven Assoziationen mit Jugendämtern, sondern schreibt ihnen meist eine negative Rolle zu. Woran liegt das? Was sind Ihrer Meinung nach die entscheidenden Gründe dafür?
Bei uns geht es um die Entwicklung von Kindern, um Haltungen von Eltern und Prognosen für die Zukunft. Das birgt Konfliktpotential und genau darin liegt auch die Schwierigkeit unserer Arbeit. Denn es ist nicht nur unsere Aufgabe, die Situation jedes einzelnen Kindes zu verbessern, sondern auch, die Eltern auf diesem Weg mitzunehmen und bei ihnen um Verständnis für unser Handeln zu werben.
Aber woher kommen dann die ganzen negativen Stimmen?
In der Öffentlichkeit wird eher selten über die gute, erfolgreiche Arbeit der Jugendhilfe gesprochen. Thematisiert werden meist Fälle in denen etwas schief gelaufen ist und individuelle Tragödien. Und selbst, wenn ein Jugendhilfeträger in einem schwierigen Fall vieles richtig gemacht hat, kann er sich in der Öffentlichkeit aufgrund der strengen aber selbstverständlich richtigen Regelungen des Sozialdatenschutzes nicht verteidigen.
Von rund 4.500 bearbeiteten Vorgängen im Jahr 2015 konnten wir in lediglich 58 Fällen keine einvernehmliche Lösung mit den Eltern herbeiführen, und mussten ob der kindeswohlgefährdenden Situation dem Familiengericht unsere Sichtweise kommunizieren. Ich denke diese Zahlen unterstreichen recht eindrücklich, dass wir im Grundsatz sehr erfolgreich arbeiten.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch anmerken, dass wir als Jugendamt nicht einfach handeln können wie wir wollen, sondern unsere Sicht auf die Dinge einer gerichtlichen Instanz zur Prüfung vorlegen müssen. Wir sind also in unserem Handeln umfänglich überprüfbar, das wird in der Öffentlichkeit aber so nicht wahrgenommen.
Kritisiert wird unter anderem, dass die Jugendämter ihrer eigentlichen Aufgabe der Hilfestellung nicht mehr nachkommen, sondern mitunter willkürlich handeln. So haben die 600 Jugendämter in Deutschland im Jahr 2015 die Inobhutnahme von mehr als 77.000 Kindern vorgenommen. Vor zehn Jahren waren es nur rund 25.000. Sind die Zeiten schwieriger geworden, oder ist hier ein Apparat völlig außer Kontrolle geraten?
Wie ich bereits erläuterte ist unser Handeln aufgrund der zwingend erforderlichen Einschaltung des Familiengerichts jederzeit transparent und nachvollziehbar. Darüber hinaus sollte man aus dem Anstieg dieser Zahlen keine voreiligen Schlüsse ziehen. Das entscheidende Instrument bei der Arbeit des Jugendamtes ist die Schutzfunktion im Hier und Jetzt, und ich halte es grundsätzlich für richtig, das reagiert wird, wenn sich ein Kind in einer Notsituation befindet.
Das ändert jedoch nichts daran, dass aus diesen Zahlen nicht die eigentliche Zielrichtung der Jugendämter ablesbar ist. Denn grundsätzlich ist es unsere Aufgabe, bei den Eltern eine nachhaltige Veränderung in ihrem Verhalten zu erreichen. Es ist nämlich auch Teil unserer Aufgabe über die Pflicht der Eltern zur Pflege und Erziehung der Kinder zu wachen.
Bleiben wir noch kurz bei den Zahlen: wie viele Inobhutnahmen hat es 2015 im Landkreis Goslar gegeben?
Die Zahl der Inobhutnahmen möchte ich gerne differenzieren, denn aufgrund der Flüchtlingssituation und einer entsprechenden Gesetzesänderung mussten wir uns 136 Flüchtlingen annehmen, die ohne Eltern nach Deutschland eingereist waren.
Ansonsten hatten wir in 2015 insgesamt 96 Inobhutnahmen. In der Regel dauert eine Inobhutnahme im Schnitt 33 Tage. Bei komplexen Sachverhalten kann es aber auch schon mal länger dauern.
Wann werden Inobhutnahmen vorgenommen beziehungsweise wie geht das Jugendamt mit etwaigen Gefährdungsanzeigen den Kinder- und Jugendschutz betreffend um?
Es gibt drei Kategorien von Inobhutnahmen: erstens, wenn ein Minderjähriger um Inobhutnahme bittet; zweitens, wenn ein minderjähriger Ausländer ohne Begleitung dem Landkreis zugewiesen wird und drittens, wenn eine Situation vorliegt in der eine Kindeswohlgefährdung unstrittig ist. Einer Inobhutnahme gehen jedoch im Regelfall viele verschiedene Schritte wie Hausbesuche sowie dem Kontakt zu allen Beteiligten voraus.
Wie viele Fälle einer akuten Kindeswohlgefährdung lagen denn vor, und wie stellen sich solche Fälle dar?
Insgesamt haben wir in 2015 in 305 Fällen die Möglichkeit einer Kindeswohlgefährdung überprüft. In 56 Fällen sind wir nach eingehender Überprüfung zur Einschätzung einer Kinderwohlgefährdung gekommen. Was folgt ist dann eine so genannte Gefährdungsrisikoabschätzung insbesondere mit den Kindeseltern.
Außerhalb der Dienstzeiten ist das Jugendamt über eine Rufbereitschaft oder natürlich auch die Polizei erreichbar. In 2015 gab es 174 entsprechende Kontakte, denen 37 Inobhutnahmen folgten.
Die Gründe sind vielschichtig: unter anderem mussten wir einen zwei Monate alten Säugling aufnehmen, da der Verdacht eines Schütteltraumas vorlag. Ferner reichen die Gründe von Streit über Gewalt bis hin zu Alkoholkonsum, der dazu führt, dass sich die Eltern in der akuten Situation nicht mehr um ihre Kinder kümmern können.
Im Juli dieses Jahres ereignete sich der tragische Fall mit einem in einer Plastiktüte ausgesetzten Säugling am Goslarer Bahnhof. Was tut das Jugendamt um überforderten Eltern zu helfen um solchen schlimmen Ereignissen schon im Vorfeld entgegenzuwirken?
Als Jugendamt sind wir wie ich bereits erwähnte in Notsituationen rund um die Uhr über eine Rufbereitschaft oder ganz einfach über die Polizei erreichbar. Mit Familienhebammen und umfangreicher Netzwerkarbeit sind wir breit aufgestellt und stehen jederzeit für wirklich jede Bürgerin und jeden Bürger als Ansprechpartner zur Verfügung. Wir verurteilen niemanden, sondern bieten unsere Hilfe an. Und es ist wichtig, dass diese auch in Anspruch genommen wird, um einer möglicherweise aus der Verzweiflung geborenen Tat frühzeitig begegnen zu können.
Und natürlich nehmen wir auch die Hinweise aus der Bevölkerung ernst. Dabei sind wir stets bemüht, den betroffenen Eltern, die „überraschend“ Besuch vom Jugendamt bekommen, zu erklären, dass wir einem Hinweis nachgehen müssen, dies aber in erster Linie der Hilfe dient und keiner wie auch immer gearteten Vorverurteilung.
Was müsste sich ändern, damit sich das Bild der Jugendämter in der Öffentlichkeit nachhaltig zum Besseren wandelt?
Es wäre schön, wenn die Bürgerinnen und Bürger ihr Recht auf Hilfe zur Erziehung so früh wahrnehmen würden, dass wir niemals gegen den Willen von Eltern Schritte zur Wahrung des Kindeswohls einleiten müssten. Ferner würde es mit Sicherheit helfen, wenn wir als Partner und Fachinstitution wahrgenommen würden.
Wenn die Feuerwehr gerufen wird, dann wird nachher Danke gesagt: danke fürs Kommen, danke fürs Löschen. Wenn wir als Jugendamt auftreten, dann bekommen wir meist analog zu diesem Beispiel zu hören: „Wir haben Sie doch gar nicht gerufen. Bei uns brennt es doch nicht.“
Es ist uns bewusst, dass unser Handeln gerade im Spannungsfeld zwischen dem Kindeswohl und der Verantwortung der Eltern für ihr Kind von der Öffentlichkeit oftmals als Übergriff und negativ wahrgenommen wird. Unser Ansatz ist es, dass noch besser als bisher bekannt gemacht und in das Bewusstsein der Eltern und Bürger gerufen wird, was „das Kindeswohl“ ist oder was es ausmacht. Das Kindeswohl ist, um bei dem Beispiel der Feuerwehr zu bleiben, eben nicht so einfach zu bestimmen wie ein Feuer, eine Explosion oder eine Überschwemmung. Aber die Auswirkungen einer Kindeswohlgefährdung sind für das betroffene Kind ebenso gravierend wie es ein Feuer für ein Haus ist.
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