Jerxheim. Gunter Demnig ist kein Mann der Worte, sondern der Taten. Während Johann Voß Gedichte und Lieder vortrug und Ruben Herm an die NS-Zeit in Jerxheim sowie im ganzen Landkreis Helmstedt erinnerte, arbeitete er fleißig. Vor dem Jerxheimer Rathaus verlegt der Erfinder der Stolpersteine eine Stolperschwelle.
Von denen gehen inzwischen einige auf das Konto des Künstlers Gunter Demnig, beziehungsweise auf die der „Stiftung – Spuren – Gunter Demnig“. Sie sind an Orten zu finden, an denen Hunderte, vielleicht Tausende Stolpersteine verlegt werden müssten, aber an denen der Platz nicht ausreicht oder die Dimension jede Vorstellungskraft sprengen würde.
Ausgebeutet, entrechtet, gedemütigt und misshandelt
Vor dem Jerxheimer Rathaus liegt nun eine davon. Sie erinnert an mehr als 400 Kriegsgefangene und zivile Arbeitskräfte, die Zwangsarbeit in Landwirtschaft, Reichsbahn, Industrie und Privathaushalten leisten mussten. Dabei wurden sie ausgebeutet, entrechtet, gedemütigt und misshandelt. Viele von ihnen wurden ermordet.
Im Beisein von Ratsmitgliedern, Landtagsabgeordneten und Bürgerinnen wie Bürgern gestalteten Ruben Herm (mit Plakat) von der AG MeGa, Lyriker Johann Voß (Mitte) und Jerxheims Bürgermeister Marko Hölz (Zweiter von rechts) die Stolperschwellen-Verlegung. Foto: Katja Weber-Diedrich
Ruben Herm von der Hötenslebener Arbeitsgemeinschaft Mauern einreißen - Grenzen abbauen (AG MeGa) hat die Schicksale von 400 Menschen in Jerxheim recherchiert und herausgefunden, wo genau sie zur Arbeit gezwungen wurden. Als größte Arbeitsstelle nannte er beispielsweise die Gastwirtschaft Robbe, in der 120 Menschen, jeweils 30 aus Russland, Frankreich, Polen und Italien, ihren Dienst tun mussten.
„Ausländer-Kinderpflegestätten“
Aber Herm hatte noch eine bedrückendere Geschichte im Gepäck. Frauen, Männer und sogar Kinder litten unter dem NS-Regime, aber im Hinblick auf die Zwangsarbeit waren die Kinder ein lästiges Übel. Schließlich beraubten sie die Mutter ihrer effektiven Arbeitskraft.
Deshalb wurden auf Erlass von Heinrich Himmler „Ausländer-Kinderpflegestätten“ eingerichtet; eine davon in Velpke. Allein von Mai bis Dezember 1944 starben dort 97 Kinder, hatte Ruben Herm ermittelt und nannte zwei Namen: Nämlich den von „Nummer 38“, Mira Zuska. Sie wurde am 11. Juni 1944 mit ihrer Mutter Maria nach Velpke deportiert und starb am 26. Juli 1944 wegen „allgemeiner Körperschwäche“. Und Jorek Sidonak wurde mit seiner Mutter Stanislawa am 17. Mai 1944 nach Velpke gebracht. Er überlebte etwas länger als Mira. Jorek starb „erst“ am 4. August 1944 an Durchfall.
Als blanken Hohn bezeichnete es der Leiter der AG MeGa in diesem Zusammenhang, dass die Mütter für die „Versorgung“ ihrer Kinder in den Ausländer-Kinderpflegestätten zur Kasse gebeten wurden. Sie mussten eine Reichsmark pro Tag dafür bezahlen, dass die Kinder interniert waren und eigentlich nur auf deren Tod gewartet wurde. Für die Beerdigung wurden nämlich bei der Ankunft 15 Reichsmark im Voraus kassiert.
„Davon haben wir nichts gewusst“
Wie Ruben Herm im Rahmen der Stolperschwellenverlegung in Jerxheim ausführte, sei damals wie heute oft der Satz zu hören „Davon haben wir gar nichts gewusst“. Das dürfe so nicht akzeptiert werden. Deshalb ging sein Dank an die Gemeinde Jerxheim, die sofort bereit war, die Stolperschwelle vor dem Rathaus verlegen zu lassen. Gemeinsam mit der Kulturwerkstatt Jerxheim wurde die Verlegung organisiert.
Lyriker Johann Voß sorgte für die passende Begleitung dieser besonderen Veranstaltung, bei der Jerxheims Bürgermeister Marko Hölz dazu aufrief, innezuhalten und der Opfer zu gedenken. Fortan wird vor dem Rathaus in der Helmstedter Straße dauerhaft an Schicksale erinnert, von denen auch in Jerxheim viele nichts gewusst haben wollen.
Dieser Artikel erscheint in Kooperation mit dem HELMSTEDTER SONNTAG und wurde dort im Original veröffentlicht.
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