Leserbrief: "Völkerverständigung und soldatische Traditionspflege?"


Symbolfoto: Jan Borner
Symbolfoto: Jan Borner | Foto: Jan Borner



Wolfenbüttel. Unsere Redaktion erreichte ein Leserbrief von Jürgen Kumlehn, der an dieser Stelle unkommentiert und ungekürzt veröffentlicht wird.




Völkerverständigung und soldatische Traditionspflege?

Das Lessingfestival ist eröffnet. Heureka! Vor dem Lessingtheater trat dazu unter anderem erstmals der türkische Heimatverein mit einer Folkloregruppe auf. Was für eine gute Idee, gerade zu diesen schwierigen Zeiten auch ausländische Bürgerinnen und Bürger unter Lessings Toleranzgedanken einzubinden. In einer Festveranstaltung in der HAB war bereits die Grundlage für die nächsten Wochen gelegt worden: Toleranz, Identität, Vorurteil: Andere Sichtweisen müssten im täglichen gesellschaftlichen Austausch anerkannt, überdacht und sachlich diskutiert werden. Dieser Satz von Thomas Pink fiel mir ein, als ich weitere Sätze über den Auftritt der türkischen Wolfenbütteler in der Lokalpresse las: In den farbenprächtigen Uniformen der osmanischen Armee boten die die Männer ihre Musik, die dem Frieden dienen soll, dar: Die lauten Klänge waren früher dazu gedacht, den Feind zu vertreiben. Und: Wir sind eigentlich eine Friedesskapelle, denn unsere Musik dient dem Frieden. Die Kostüme seien denen der osmanischen Armee vor 600 Jahren nachempfunden.

Nach dieser Erkenntnis ging mein erster Gedanke zu unseren armenischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die, würden sie zurzeit in der Türkei öffentlich über den Völkermord der osmanischen Armee am armenischen Volk sprechen, wegen Verleumdung des „Türkentums“ wahrscheinlich im Gefängnis landen. Ich möchte hier jetzt nicht auf die seit dem 14. Jahrhundert unter grausamen Bedingungen stattgefundene Ausweitung des Osmanischen Reiches zu einem Weltreich eingehen, aber doch wenigstens daran erinnern, dass die Osmanen unter Sultan Süleyman im 16. Jahrhundert Wien glücklicherweise zweimal erfolglos belagerten.

Ja, ich bin der Meinung, ein Lessingfestival sollte nicht mit militärischer Folklore begonnen werden. Dieser Fehlgriff erinnert mich an die peinliche Wolfenbütteler Weihnachtsparade, in der auch Folkloristen mitmarschiert waren: Männer in historischen Soldatenuniformen, die weihnachtlich beleuchtete Gewehre trugen. Anschließend boten diese Soldaten neben der Friedenstanne vor dem Rathaus, die die Sehnsucht der Menschen nach Frieden und Völkerverständigung symbolisieren soll, die Rekrutierung weiterer Männer für die militärische Traditionspflege des „Herzoglich-Braunschweigischen Feldkorps“ an. Wenn das im Interesse geschichtlicher Erinnerung unbedingt sein soll, dann bitte nicht unter dem Namen Lessings und neben einer Friedenstanne. Die osmanischen Armeen aller Jahrhunderte hatten mit Völkerverständigung nichts im Sinn. Das können unsere armenischen Mitbürger bestimmt bestätigen. Gerade setzt Recep Tayyip Erdoğan, der sich offenbar als Nachfolger dieses großprotzigen Süleymanns versteht, die Dresdner Sinfoniker unter Druck, die ein musikalisches Projekt zum Genozid an den Armeniern (Aghet) aufführen wollen. Fazit: Türkische Folklore sehr gern, aber bitte mit Fingerspitzengefühl.