Nach Skandal-Aussage: Braunschweiger Wissenschaftler legt sich mit Boris Palmer an

Der Grünen-Politiker Boris Palmer sorgte im einem Fernseh-Interview mit der Aussage "Wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären" Für Empörung. Mit seinen Worten am gestrigen Donnerstag stieß er einen Braunschweiger Wissenschaftler gewaltig vor den Kopf.

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Michael Meyer-Hermann ist seit 2010 Leiter der Abteilung System Immunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig.
Michael Meyer-Hermann ist seit 2010 Leiter der Abteilung System Immunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. | Foto: anna.laclaque

Braunschweig. Am gestrigen Donnerstag kam es in der ZDF-Talkshow Maybrit Illner zu einem verbalen Schlagabtausch: Der Grünen-Politiker Boris Palmer provozierte Ende April im Hinblick auf die strengen Schutzmaßnahmen vor dem Coronavirus mit der Aussage: "Wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären." Rudert Palmer in der Talkshow auch leicht zurück, erntet er scharfe Kritik vom Braunschweiger Michael Meyer Hermann, Forscher am Helmholtz-Institut für Infektionsforschung. Dieser konstatiert nicht nur, dass die am Coronavirus verstorbenen noch durchschnittlich neun Jahre zu leben gehabt hätten, sondern zeigt sich auch besorgt über den Kurs der Lockerungen.


Meyer-Hermann zufolge hätte ein längerer Lockdown dem Land weniger geschadet als die vielen Lockerungen jetzt. "Wir können stolz darauf sein, dass wir es geschafft haben - im Gegensatz zu den anderen Ländern um uns herum - einen sehr flachen Verlauf der Epidemie zu haben", erklärt Hermann. Er könne dennoch gut nachvollziehen, dass man nun anfange zu protestieren. Man müsse jedoch im Hinblick auf die tausenden Demonstranten in Berlin, Stuttgart und München auch bedenken, dass das epidemiologische Folgen habe. "Dort werden unweigerlich Infektionen stattfinden, die uns auch zurückwerfen können." Dass Deutschland eines der wenigen Länder in Europa sei, wo die Krankenhausbetten eben nicht massiv ausgelastet sind, sei kein Zeichen dafür, dass man überreagiert habe, sondern ein Zeichen dafür, dass man etwas richtig gemacht habe. Diese Erfolge dürfe man nun nicht verspielen.

Das Präventions-Paradoxon vor der Haustür


Die Stadt Braunschweig hat viel für die Vorsorge getan - für einen Fall, der bislang noch nicht eingetreten ist. Mit dem "Präventions-Paradoxon", das nach der Verhinderung einer Katastrophe eintritt und sich in den leerstehenden Krankenhauskapazitäten zeigt, komme laut Moderatorin Illner auch immer die Frage "Was sollte die Aufregung?". In Braunschweig zeigt sich dies aktuell exemplarisch am eilig eingerichteten Behelfskrankenhaus "Vienna House Easy", welches nach aktuellen Stand wohl nie in die Krankenversorgung gehen wird. (regionalHeute.de berichtete).

Das Vienna House Easy in Braunschweig, das zum Behelfskrankenhaus umgebaut werden sollte und nun - halb umgebaut - leer steht ist ein gutes Beispiel für das Präventions-Paradoxon
Das Vienna House Easy in Braunschweig, das zum Behelfskrankenhaus umgebaut werden sollte und nun - halb umgebaut - leer steht ist ein gutes Beispiel für das Präventions-Paradoxon Foto: Alexander Dontscheff



Meyer-Hermann dazu: "Natürlich wären einzelne Maßnahmen nicht nötig gewesen. Da wir ja nicht genau wissen, welche Maßnahme ist jetzt die richtige, ist vielleicht eine dabei gewesen, die wir nicht hätten machen müssen. Wir kriegen es jetzt im Moment nicht raus, welche das ist, vielleicht können wir das in ein paar Monaten retrospektiv herausbekommen. Wenn wir die gesamten Daten haben können wir analysieren und für die nächste Epidemie lernen, was effektiv war und was nicht."

Risikovorsorge muss früh genug erfolgen


Die leeren Krankenhausbetten, die leerstehenden Behelfseinrichtungen seien ein Zeichen des Erfolges, nicht der Überreaktion. Diese Meinung teilt auch die Stadt Braunschweig. Stadtsprecher Adrian Foitzik: "Die Stadt Braunschweig hatte zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung von Stadt und Region schon vor Wochen eine Entscheidung zur Risikovorsorge zu treffen, da deren Aufbau etliche Wochen Vorlauf erfordert. Ob diese Risikovorsorge letztlich in Anspruch genommen werden muss, kann weiterhin niemand sicher vorhersagen." Auch das Gesundheitsministerium vermeide laut Foitzik jede Festlegung, dass die heute vorhandenen stationären Kapazitäten sicher für jeden weiteren möglichen Fallzahlenverlauf ausreichen würden.

Jung gegen Alt


Boris Palmer sorgte Ende April mit seiner Aussage für Kontroversen. Für diese entschuldigt er sich zunächst damit, dass er sich falsch ausgedrückt hätte. Seiner Meinung nach sei die Bedrohung durch das Virus weniger schlimm für die gefährdete Risikogruppe als die Einsamkeit. Gleichzeitig fordert er, Risikopatienten zielgerichteter zu schützen, statt alle in den Lockdown zu schicken.

Zur Eskalation kommt es, als Palmer erneut behauptet, dass die meisten Toten ohnehin nicht mehr lange gelebt hätten. Meyer-Hermann fühlt sich genötigt, dieser Falschinformation Palmers zu wiedersprechen: "Es gibt eine Untersuchung in Deutschland, wie lange die Menschen, die an Corona gestorben sind, noch gelebt hätten - Das ist im Durchschnitt neun Jahre." Palmer unterbricht ihn schroff mit "Das ist falsch", Meyer-Hermann reagiert fast schon fassungslos: "Es geht hier um wissenschaftliche Fakten, nicht um Meinungen." Der Rest von Meyer-Hermanns Argumentation geht unter im lautstarken Protest des Grünen-Politikers. Der Braunschweiger Wissenschaftler kann immerhin noch sagen: "Diese elf Monate betreffen ja nur einen kleinen Teil der Menschen, die eben in diesen Einrichtungen leben!"

Eine ethische Frage


Einig werden sich die beiden immerhin dabei, dass in Altenheimen mehr getestet werden sollte. Christiane Woopen, Vorsitzende des europäischen Ethikrates hält die ganze Diskussion für überflüssig: "Das eine ist die Frage der Wissenschaft, ob das nun elf Monate oder neun Jahre oder noch mehr sind, das andere ist die ethische Frage - Ist das denn überhaupt relevant?"

Wie lange die Menschen länger gelebt hätten. Könne doch gar nicht zählen in einem Land, in dem die Würde des Menschen im ersten Artikel der Verfassung verankert ist. "Es verbietet sich doch gerade überhaupt über diese verbleibende Lebenserwartung zu sprechen", so das Fazit der Ethikrätin.

Wir lockern falsch


Illner thematisiert im Verlauf der Sendung auch den Vorwurf, dass Virologen nur die Gesundheit im Blick gehabt hätten, nicht jedoch die wirtschaftlichen und gesundheitlichen Schäden. Der Braunschweiger Wissenschaftler hat an einer Studie zu dem Thema mitgewirkt - mit einem eindeutigen Ergebnis: Es gibt den optimalen Mittelweg. Lockert man zu sehr, belastet das die Wirtschaft langfristiger. Auch ein zu starker Lockdown schadet zu sehr. Meyer-Hermann erklärt: "Wenn wir am 20. April noch gar nicht gelockert hätten, wären wir jetzt in einer Situation - laut unseren Prognosen zumindest - wo wir am 15. Mai weitestgehend alles hätten aufmachen können, weil wir alles unter Kontrolle hätten", so sein Ergebnis.

Im Fazit bereite ihm besonders das Erlauben von Demonstrationen und die Schulöffnungen Kopfzerbrechen. Am 20. April waren noch alle Geschäfte und die Schulen geschlossen. Hätte man diesen Weg beibehalten, wäre die "neue Normalität mit dem Coronavirus", wie Ministerpräsident Stephan Weil es gerne nennt, vielleicht schon am heutigen Freitag deutlich freizügiger als sie es ist - mit niedrigeren Infektionszahlen. Zumindest, wenn man dieser Studie Glauben schenkt. Meyer-Hermann lädt abschließend ausdrücklich zum Hinterfragen dieser Ergebnisse ein.


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