Neuroethiker warnt vor Missbrauch von Neurotechnologie und KI

Der Neuroethiker Marcello Ienca warnt vor dem Missbrauch von Neurotechnologie und Künstlicher Intelligenz durch Staaten und Technologieunternehmen.

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Frau und Mann am Computer
Frau und Mann am Computer | Foto: via dts Nachrichtenagentur

München. Der Neuroethiker Marcello Ienca warnt vor dem Missbrauch von Neurotechnologie und Künstlicher Intelligenz durch Staaten und Technologieunternehmen. "Im schlechtesten Fall wird es noch dystopischer als in `1984`", sagte der Professor für Ethik der Künstlichen Intelliegenz und Neurowissenschaft an der TU München dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel".


In der in George Orwells Roman beschriebenen totalitären Welt gebe es eine letzte Bastion der Freiheit: das eigene Gehirn, so Ienca. "Wenn unsere Gehirne künftig ohne Schutzmaßnahmen mit der digitalen Welt verbunden würden, könnten wir die Kontrolle auch über diese letzten Kubikzentimeter verlieren."

Laut Ienca steht die Menschheit an der Schwelle zu einer neuen Welt, in der Menschen und Maschinen physisch zusammenwachsen. Unter anderem könnte Neurotechnologie künftig massenhaft in Gehirne implantiert werden, zum Beispiel Hirn-Computer-Schnittstellen, also Gehirnchips. In einzelnen Fällen geschieht das bereits heute.

Ohne entsprechende Regulierung könnte Unternehmen Ienca zufolge künftig "in Ihrem Gehirn Verlangen nach bestimmten Produkten wecken". Und Diktaturen könnten die Gehirne von Gefangenen oder Oppositionellen hacken und deren Gedanken extrahieren. Schließlich sorge die Künstliche Intelligenz für rasante technologische Fortschritte auf diesem Gebiet. Träume werde man vielleicht schon innerhalb der nächsten zehn Jahre entschlüsseln können, so Ienca. Komplexe Gehirnmanipulation wie etwa die Änderung politischer oder religiöser Überzeugungen werde in ein paar Jahrzehnten technisch möglich sein.

Neben Laboren rund um den Globus erforschen und entwickeln Weltkonzerne Neurotechnologien. "Und die Armeen der halben Welt arbeiten daran, diese Technologien für militärische Zwecke zu nutzen", sagte Ienca dem "Spiegel".

Der gebürtige Italiener entwickelte zusammen mit seinem Forscherkollegen Roberto Andorno das Konzept der Neurorechte: eine Untergruppe der Menschenrechte, die Menschen vor Einschränkungen ihrer Freiheit des Denkens durch neue technologische Entwicklungen schützen sollen. Seit 2023 lehrt er in München. Vor einigen Monaten wurde der 36-jährige Forscher von der Unesco in eine Gruppe internationaler Experten berufen, die möglichst weltweit geltende Neurorechte entwerfen sollen, allen voran ein Grundrecht auf geistige Selbstbestimmung: Jeder Mensch sollte selbst darüber entscheiden können, was mit seinem Gehirn geschieht.

Die Technologie biete auch enorme Chancen, sagte Ienca dem "Spiegel". "Die Bibel schildert Wunder: Stumme, die wieder sprechen können, und Gelähmte, die wieder laufen. Die Neurotechnologie kann solche biblischen Wunder mithilfe künstlicher Intelligenz wahr machen."

Allerdings könne sie Gesellschaften noch ungleicher machen: "mit einigen Übermenschen, die sich für viel Geld Superkräfte kaufen - und dem Rest", der sie nicht bezahlen könne. "Wir bräuchten deshalb Maßnahmen, die Gerechtigkeit und Gleichheit garantieren: durch den allgemeinen Zugang zu diesen Technologien", sagte Ienca. "Dann würde ich ein Gehirndoping der Menschheit nicht ablehnen."


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