Nutzer des Sky-Bundesliga-Pakets haben das erkaufte Privileg, jedes einzelne der 306 Saisonspiele der Fußball-Bundesliga in jeglicher Form sezieren zu können. Wiederholungen, Zeitlupen, unzählige Kameraeinstellungen bringen jede erdenkliche Szene in die heimischen Wohnzimmer, Vereinsheime und Sky-Kneipen. Aber dieses Privileg hat auch eine nicht zu unterschätzende Schattenseite, nämlich die überdurchschnittliche Anzahl semikompetenter Moderatoren und Kommentatoren beim Bezahlsender Sky. von York Schlüter
Absolut unhaltbare Torwartfehler
Rechnen wir mal: Jedes Bundesligaspiel erhält einen Live-Kommentator für die Konferenz … macht also neun Kommentatoren. Bei jedem Bundesligaspiel gibt es aber noch einen Live-Kommentator für das Einzelspiel … sind zusammen schon 18. Dazu kommen die Moderatoren für die Vorberichte und An-Moderationen und –klar- die sogenannten Experten vom unvermeidlichen Loddar über den gänzlich überflüssigen, meist tschakka-hyperaktiven Erik Meijer bis zu Peter Gagelmann, dem neuen Erklärbären von eklatanten Fehlentscheidungen. Aber die lassen wir alle mal unberücksichtigt! Bleiben wir bei den 18 Live-Kommentatoren. Da sind die Stars der Szene, Marcel Reiff und Wolff-Christoph Fuss, aber auch die weitgehend gesichtslosen, dennoch jedem Fußball-Fan geläufigen Namen wie: Tom Bayer, Markus Hagemann, Roland Evers, Marc Hindelang und Michael „Michi“ Leopold …
Was sie von den alten Recken der ARD-Sportschau in den 70ern und 80ern unterscheidet: Sie bewerten fortwährend und ganz nach ihrem Gusto die Spielszenen, Zweikämpfe und Aktionen von Spielern sowie Schiedsrichtern! Und damit machen sie Meinung. Aber ist ihre Meinung auch die korrekte Meinung? Reiff & Co. bedienen sich dabei höchst selten eines Konjunktivs. Sätze wie „Könnte man aus meiner Sicht pfeifen“ gibt es längst nicht mehr! Hektische Ausrufe wie „muss er pfeifen“ oder „klare Rote Karte“ sind die Regel – nicht selten schon vor den zahlreichen Zeitlupen. Selbst bei umstrittenen Situationen legt der Moderator sich gerne mal fest.
"Krasse Torwartfehler"
Als seit fast 40 Jahren aktiver und leidenschaftlicher Torwart steigt regelmäßig mein Blutdruck, wenn einer dieser Selbstdarsteller mit Mikrofon, der garantiert noch nie in einem Fußballtor gestanden hat, uns weißmachen will, dass dieser Ball gerade „absolut unhaltbar“ war. Noch schlimmer, wenn er, der allenfalls manchmal Gartenhandschuhe, aber niemals Torwarthandschuhe trägt, behauptet, gerade einen „krassen Torwartfehler“ erkannt zu haben. Es kommt einem vor, als würden Bäcker und Floristen über die Arbeit eines Dachdeckers urteilen.
Da verlängert Naldo eine Flanke per Kopf „unhaltbar“ (laut Sky-Kommentator) in die Mitte des Tores. Der Keeper ist derweil noch damit befasst, das Gewühl ca. 10 Meter vor dem Tor zu entwirren, in welches er sich stürzte, um die Flanke zu erreichen. Wirklich unhaltbar? Was passiert denn, wenn der Keeper auf der Linie bleibt? Vermutlich kann er diesen „unhaltbaren Ball“ einfach fangen und sogar einen Konter einleiten. Klarer Fall - klarer Fehler! Hier begründete sich die Nicht-Erreichbarkeit des Balles durch eine im Vorfeld getroffene, unglückliche Torwartentscheidung.
Anderes Beispiel: Freistoß aus 20 Metern. Calhanoglu schießt direkt und der Außenmann in der Mauer berührt die Pille ganz leicht mit der Hüfte. Der Ball schlägt knapp neben dem verdutzten Torwart ein. „Da sieht er schlecht aus, der Keeper“, tönt es aus der Schlauschwätzer-Kabine. Nach der zwölfmaligen Wiederholung inklusive Standbild ist sich der Pseudo-Fachmann sicher: „Ich lege mich fest, klarer Torwartfehler“.
Ich lege mich auch fest. Dieser „Tor-in-Sinsheim-Schreihals“ kann zweifelsohne nicht einschätzen, was es für einen Torwart bedeutet, wenn ein Schuss abgefälscht wird. Ob leicht, ob stärker, der Keeper reagiert auf die Flugbahn des Balles exakt nachdem der Schütze ihn abgefeuert hat. Wenn der Ball ca. 9,15m später von der Mauer leicht abgefälscht wird, dann ist der Torwart bereits in einer aktiven Bewegung, die –bei Freistößen aus entsprechender Entfernung- meist nicht mehr korrigiert werden kann.
Ja und dann passiert es, dass der Ball wenige Zentimeter neben Dir einschlägt, aber Du bist auf dem Weg in die andere Ecke oder auf dem berühmten „falschen Fuß“…sieht blöd aus, das Leder ist dennoch nur sehr schwer haltbar. Keinesfalls ist es ein Faux-Pas des Keepers, aber woher soll der kommentierende Torhüterfehler-Forscher das wissen? Vielleicht hat er vor etlichen Jahren mal mehrere Monate lang mit Studienkollegen Freizeit-Fußball im Park gespielt, stand dabei auch mal im Tor (das durch zwei Rucksäcke markiert wurde) und ist seitdem ein echter Experte des Bundesliga-Fußballs, Spezialgebiet Torhüter! Wer weiß?
"Zu weit vor dem Kasten"
Ein weiterer Klassiker ist in neuerer Zeit auch der Heber aus größerer Entfernung, bei dem zugegebenermaßen jeder Torwart unglücklich aussieht. Üblicher Ausruf von Reiff & Co.: „Das steht er eindeutig zu weit vor seinem Kasten!“
Insbesondere modern ausgebildete Keeper wie Manuel Neuer oder Bernd Leno erleben zeitweilig diese Schmach. Einem Sepp Mayer, einem Toni Schumacher oder sogar einem Olli Kahn ist sowas eher selten passiert, denn diese Legenden verbrachten Ihre 90-minütige Arbeitszeit vornehmlich noch „angetackert“ auf der Torlinie (was Herrn Kahn wohl auch seinen Job bei der WM 2006 gekostet hat).
Aber warum fallen solche Tore heute scheinbar öfter? Die hämischen Kommentatoren-Ausrufe „eklatanter Faux-pas“ oder „Slapstick-Einlage des Keepers“ sind natürlich deutlich populärer und einfacher, als die ganze Story zu erfassen. Natürlich hat sich das Torwartspiel in den vergangenen Jahren rigoros verändert: Beginnend mit Veränderung der „Rückpassregel“ in den 90ern, über die Abschaffung des Libero und der Einführung der Viererkette, bis hin zur Neu-Interpretation, dass der Torwart der erste Offensivspieler seines Teams sein kann.
Folglich ist es längst nicht mehr so, dass ein guter Torwart ausschließlich auf der Linie steht und nach seinen Qualitäten im schnöden „Bälle halten“ bewertet wird. Nein, ein guter Torwart muss ein exzellenter Fußballer sein. Er muss hoppelnde Bälle auf schlechtestem Untergrund sicher wegschlagen können, er muss ein innovativer Libero/Ausputzer sein, er muss genauestes Paßspiel über bis zu 60-Meter-Entfernungen beherrschen! Ein moderner Bundesliga-Torwart hat im Spiel häufig sogar deutlich mehr Ballkontakte als ein Stürmer. Bei einer taktischen Vorgabe mit offensiver Verteidiger-Kette ist ein Keeper für den riesigen Zwischenraum hinter den vorgerückten Abwehrspielern zuständig. Darum bewegt er sich vielfach an seiner 16m-Linie oder gar deutlich davor. Er muss die Pässe in diesen Freiraum ablaufen sowie entschärfen und damit gegnerische Angriffe bereits im Keim ersticken. Das ist zwar unspektakulärer als eine coole Parade auf der Linie, aber eben auch sehr viel effektiver.
Die logische Konsequenz: In einem von hundert Fällen schlägt ein Fernschuss mal glücklich für den mutigen Schützen ein. Das ist ein bewusst in Kauf genommenes Risiko der offensiven Torwart-Interpretation, welche nicht selten die elementare Basis einer taktischen Marschroute darstellt. Das weiß jeder, der sich mit dem modernen Torwartspiel befasst. Warum tun es Moderatoren nicht auch mal? Dennoch gibt es sie natürlich wirklich immer wieder mal zu sehen: diese manchmal unbegreiflichen Fehler, die jeder Torwart schon schmerzvoll erlebt hat und bei denen Dir auch der Kollege, dem es passiert, einfach nur leid tut.
Torwartfehler im Endspiel
Und wenn wir genau hinsehen, dann haben wir Deutschen, die bekanntlich als Nation mit überragender Torwart-Ausbildung gelten, sogar zwei Weltmeisterschafts-Endspiele durch Torwartfehler verloren: 1986 in Mexiko, als Toni Schumacher beim 2:3 gegen Argentinien gleich zweimal schlecht aussah. Und nicht zu vergessen: 2002 in Südkorea/Japan, als Titan Kahn nach sensationellen Leistungen im Turnier im Endspiel gegen Brasilien und Ronaldo patzte.
Glücklicherweise gab es aber auch Toni Turek und Manuel Neuer! Erstgenannter ist 1954 vom damaligen Live-Kommentator Herbert Zimmermann sogar zum Fußballgott erkoren worden. Und womit? Mit Recht! Und Manuel Neuer hat das Torwartspiel zweifelsohne auf ein ganz neues Level gehoben und war Wegbereiter des WM-Titels 2014. Das Lob-Gewitter der Kommentatoren rund um Tom Bartels und Konsorten war in diesem Fall ausnahmsweise mal mehr als berechtigt.
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Dies ist eine Kolumne von York Schlüter. Die Meinung des Autor entspricht nicht zwingend der Meinung unserer Redaktion