Das Spiel des Jahrzehnts: Als Eintracht und Fortuna Geschichte schrieben

Wir lassen das torreichste Spiel in der Geschichte der 3. Liga mit einigen damaligen Protagonisten noch einmal aufleben.

von Henrik Stadnischenko


Finale Furioso: Fait-Florian Banser mit dem 5:5 in der letzten Spielminute.
Finale Furioso: Fait-Florian Banser mit dem 5:5 in der letzten Spielminute. | Foto: imago/Hübner

Braunschweig. Sei es das Meisterspiel gegen den 1.FC Nürnberg im Jahr 1967, die Partie 2013 gegen den FC Ingolstadt oder die Rettung in letzter Sekunde gegen Energie Cottbus in der vergangenen Saison. Spannende Fußball-Thriller gab es in der Historie von Eintracht Braunschweig schon immer. Das 5:5 (1:2) gegen Fortuna Düsseldorf am 10. Mai 2009 macht da keine Ausnahme. Noch heute ist es das torreichste Spiel in der Geschichte der 3. Liga. regionalSport.de lässt das "Spiel des Jahrzehnts" mit einigen ehemaligen Protagonisten noch einmal aufleben.

"Spektakel, kurios und Achterbahnfahrt"


Wir schreiben den 35. Spieltag der Saison 2008/2009. Eintracht Braunschweig ist dankbar für jedes Spiel in Liga Drei, schließlich hatte man erst in einem Herzschlagfinale ein Jahr zuvor die Qualifikation für die Liga geschafft. Das Team von Coach Torsten Lieberknecht rangiert vor dem Spieltag sorgenfrei auf Tabellenplatz 13. Für die Gäste aus der Rheinmetropole geht es dagegen um einiges mehr als das. Ein Sieg ist im Grunde Pflicht, denn der Rückstand auf den Aufstiegsplatz Zwei beträgt gerade einmal zwei Punkte. Tabellenführer Union Berlin ist für alle Verfolger nahezu uneinholbar.

Als die ersten Sekunden des Spiels laufen kann noch niemand unter den 14.500 Zuschauern im Eintracht-Stadion ahnen, dass es ein kurioser und historischer Schlagabtausch werden soll. Das Spektkakel nimmt derweil schnell seinen Lauf: Der erste Spielzug der Braunschweiger Eintracht läuft, Mirko Boland kommt über links zu einer Flanke auf Kingsley Onuegbu, dessen Torschuss aber von Fortunen-Keeper Michael Melka pariert wird. Den Nachschuss von Smail Morabit muss Melka jedoch passieren lassen – die frühe Führung für die Eintracht (1.).

Vor dem Spiel hätte wohl niemand geglaubt, dass es ein derartiges Spektakel werden könnte.
Vor dem Spiel hätte wohl niemand geglaubt, dass es ein derartiges Spektakel werden könnte. Foto: Frank Vollmer/Archiv


„Scheiße, absolute Scheiße!“


„Heute kann ich sagen, dass es eine der kuriosesten Partien war, die ich je miterlebt habe. Nach der frühen Führung waren wir optimistisch, dass es ein guter Nachmittag für uns werden könnte. An ein Spektakel in diesem Ausmaß hat jedoch keiner geglaubt“, erklärt der ehemalige Eintracht-Verteidiger Jan Schanda. Auf Gäste-Seite herrschte nach dem 0:1 entsprechend Frust: „Scheiße, absolute Scheiße“, entgegnet der damalige Düsseldorfer Spielmacher Marco Christ auf die Frage, welcher Gedanke ihm nach dem frühen Rückstand als erstes in den Kopf fuhr. „Das Spiel gegen Braunschweig lag in der Saison-Endphase und wir waren im Rennen um den Aufstieg mittendrin. Uns war jedoch klar, dass eventuell ein Unentschieden in Braunschweig zu wenig sein könnte. Dementsprechend waren wir sehr gut vorbereitet – eigentlich …“, verrät Christ, der im Laufe des Spiels mit je zwei Treffern und Vorlagen noch eine tragende Rolle einnehmen sollte.

Für den gebürtigen Franken war das Spiel auch insofern ein besonderes, weil er mit Problemen in Düsseldorf zu kämpfen hatte. Die Spiele zuvor durfte er nur als Ersatzspieler ran und von den ortsansässigen Medien wurde er als Sündenbock für den „schlechten“ Tabellenplatz Vier ausgemacht. Die Folge: Christ sprach über ein halbes Jahr nicht mehr mit der Düsseldorfer Presse. Jener Christ ist es auch, der die Düsseldorfer in der zehnten Spielminute mit seinem 1:1 wieder zurück ins Spiel holt. Das Momentum dreht sich ein erstes Mal in dieser Partie: Ranislav Jovanovic erhöht keine zwei Minuten später auf 1:2 für die Gäste (12.).

Dogan und Boland versemmeln vom Punkt


Kurzzeitig plätschert die Partie daraufhin vor sich hin, bevor es zu einer Art Wasserfall kommt. 22. Spielminute: Elfmeter für Eintracht Braunschweig. Deniz Dogan fühlt sich sicher, tritt an – und verschießt. Doch der Fußballgott ist in der ersten Halbzeit auf Seiten der Braunschweiger. In der 42. Spielminute gibt es erneut Elfmeter. Diesmal darf Youngster Boland ran. Scheinbar sicher und fest entschlossen läuft der Mittelfeldspieler an. Und wieder reagiert Düsseldorf-Keeper Melka grandios.

"Für die Zuschauer natürlich Weltklasse!"


„Nach den zwei verschossenen Elfmetern habe ich geglaubt, die Eintracht hat ihr Glück verbraucht. Noch einen Elfer werden sie nicht bekommen“, muss Christ schmunzeln, als er an jenen Nachmittag zurückdenkt. Er sollte nach dem Seitenwechsel eines Besseren belehrt werden. Bei der Eintracht sitzt nach den zwei vergebenen Strafstößen der Frust tief: „Du führst 1:0, kriegst dann gefühlt zwei Witztore gegen dich und verschießt nahezu im selben Atemzug zwei Elfmeter. Ab dem Augenblick habe ich gedacht: Heute kann alles passieren und hoffentlich kriegen wir nicht richtig auf den Sack“, lacht Schanda und Mirko Boland fügt hinzu: „Wir hatten während der 90 Minuten das Gefühl, jeder Schuss von den Düsseldorfern sitzt. Für die Zuschauer war das Spiel natürlich Weltklasse und feinste Unterhaltung.“

Mirko Boland, hier gegen Kai Schwertfeger, erinnert sich gerne an jenen Nachmittag zurück.
Mirko Boland, hier gegen Kai Schwertfeger, erinnert sich gerne an jenen Nachmittag zurück. Foto: imago/Rust


In Halbzeit zwei geht das kuriose Spektakel weiter und nimmt nahezu groteske Züge an. Gerade, als die letzten Fans vom Bier- und Bratwurststand auf ihre Plätze zurückgekehrt sind, schellt die Pfeife von Schiedsrichter Daniel Siebert schon wieder. Zum dritten Mal zeigt Siebert auf den Punkt, Elfmeter für Braunschweig. Christian Lenze tritt an und verwandelt sicher zum 2:2-Zwischenstand.

Der Wahnsinn auf dem Rasen soll nicht aufhören! Die 2:3-Gästeführung durch Andreas „Lumpi“ Lambertz in der 51. Spielminute, die im direkten Gegenzug von Christian Lenze egalisiert wird. Andreas Lambertz reagiert heute beinahe schon aggressiv auf die Frage, ob es in diesem Spiel auch mal Zeit zum Verschnaufen gegeben habe. „Wie willst du in so einem Spiel verschnaufen? Das war eine reine Achterbahnfahrt. Nach meinem Tor zum 3:2 war ich sicher: 'Den Sieg schaukeln wir nach Hause.' Es wäre sicherlich niemand auf die Idee gekommen, dass das Spiel wirklich 5:5 ausgeht. Da normalweise die Mannschaften nicht so effektiv sind und sämtliche Chancen nutzen.“

Die Achterbahnfahrt geht weiter.


Claus Costa schießt in der 54. Spielminute die Fortuna erneut in Front, doch Boland kontert nur acht Minuten später mit dem erneuten Ausgleich zum 4:4. Den Titel für den kreativsten Torjubel sichert sich der heute 32-Jährige gleich auch noch: In bester Thorsten Legat-Manier zieht sich „Bole“ die Hose hoch bis über den Bauchnabel. „Mit meinen Freunden aus der Heimat hatte ich mir vorab Gedanken gemacht, welche Torjubel verrückt, lustig und bescheuert wirken könnten. Es gab Ideen, die ich nur gemacht hätte, wenn die Sportschau das Spiel nicht gezeigt hätte. Der Torjubel war halbwegs noch vertretbar. Aber man muss schon sagen, dass der Jubel ein Alleinstellungsmerkmal war und ist, denn bisher hat sich noch keiner wieder an diesen Move getraut“, lacht Bole.

Es folgt das schönste Tor dieses total verrückten Nachmittags: Marco Christ bugsiert fünf Minuten vor dem Ende einen Freistoß mit ganz viel Gefühl über die Eintracht-Mauer hinweg zum 4:5 ins Tor. „Ich meine, ich bin erst in unsere Fankurve gelaufen, dann zum Trainer, und habe dann sowas gesagt, wie 'Männer das Ding ist durch'. Der Fußball schreibt solche Geschichten. In einer Sekunde bist du der Held, in einer anderen der Depp. Es konnte ja keiner ahnen, dass die Braunschweiger noch einen Einwurf bekommen“, so der damalige Düsseldorfer-Spielmacher.

Der Alptraum für Eintrachts Nachwuchskeeper Nico Lauenstein: Marco Christ mit dem Ausgleich zum 1:1. Vier weitere Gegentore sollten folgen.
Der Alptraum für Eintrachts Nachwuchskeeper Nico Lauenstein: Marco Christ mit dem Ausgleich zum 1:1. Vier weitere Gegentore sollten folgen. Foto: imago/Rust


"Wenn ich reinkomme, verderbe ich denen mal die Party!"


Auf Gegnerseiten drückt es „Lumpi“ Lambertz etwas drastischer aus: „Der Einwurf hat mich extrem angepisst, weil er nicht sein musste und maßgenau auf den Eintracht-Stürmer kam. Wenn wir wegen dem 5:5 nicht aufgestiegen wären, ich wäre ausgerastet“, verrät die Düsseldorf-Legende schmunzelnd. An jenen Einwurf werden sich wahrscheinlich noch viele Eintracht-Fans erinnern. Am lebendigsten erinnert sich jedoch der Torschütze Fait-Florian Banser selbst: „Die Erinnerungen an das Spiel und insbesondere an das Tor sind noch sehr präsent, zumal ich häufig darauf angesprochen werde. Indirekt habe ich den Treffer Norbert Meier (damaliger Fortuna-Trainer d. Red.) zu verdanken, der hat jedes Tor seiner Düsseldorfer sehr provokativ gefeiert. Irgendwann war die Wut und der Frust so groß bei mir, dass ich gedacht habe, 'wenn ich reinkomme, verderbe ich denen mal die Party' “, grinst der ehamalige Angreifer des BTSV.

Eine sehr schöne Randnotiz: Ausgerechnet Bansers WG-Mitbewohner Jan Washausen bringt den Einwurf in den Strafraum. „Das Tor gehört zu über 50 Prozent Jan, wie der den Ball direkt auf meinen Kopf geworfen hat – unfassbar! Sowas kannst du auf dem Platz auch nicht üben, wobei auf der Playstation hatten wir häufig solche Trainingssessions. Somit wusste Jan, wie ich agieren werde“, erinnert sich Banser laut lachend.

"Auf jeden Fall das Spiel des Jahrzehnts!"


Während die Braunschweiger nach dem Abpfiff den Punkt wie einen Sieg feiern, herrscht bei den Düsseldorfern Fruststimmung pur. Marco Christ sitzt heulend am Boden und muss von Torsten Lieberknecht aufgemuntert werden. „Durch das Remis war uns bewusst, es wird verdammt schwierig den zweiten Platz noch zu erreichen. Zumal Paderborn – die damals Zweiter waren – ihr Spiel beim Vorletzten Werder Bremen II noch nicht absolviert hatten. Die Stimmung auf der Rückfahrt war gespenstisch, normalerweise hätten wir uns einige Liter Kaltgetränke geben müssen, um dieses Spiel zu vergessen“, erinnert sich Christ augenzwinkernd.

Doch alles wendet sich zum Guten für die Fortunen: Paderborn verliert das Spiel gegen Bremen II. Im Endspurt kann Düsseldorf die Westfalen noch abfangen und steigt am Ende als Tabellenzweiter auf. Die Braunschweiger Eintracht folgt zwei Jahre später in das Unterhaus der Bundesliga. „Ob es das Spiel des Jahrhunderts war kann ich nicht beurteilen, aber auf jeden Fall das Spiel des Jahrzehnts. Wenn es draußen regnet oder ich schlechte Laune habe, schau ich mir das Spiel auf YouTube an. Ein solches Achterbahnspiel wird es nicht mehr geben“, ist sich der ehemalige Düsseldorfer Christ sicher und Jan Schanda pflichtet ihm bei. „Für die Zuschauer war es ein sensationelles Spiel und wird in der Form wahrscheinlich einmalig bleiben. Für uns als Abwehrspieler war es der blanke Horror, aber lieber ein 5:5, als am Ende durch ein Gegentor in der 90. Minute zu verlieren.“

Weitere spannende Artikel