Duisburg/Braunschweig. Eine kleine, eher unterbewusste, und doch vielsagende Geste von Torsten Lieberknecht nach dem 1:1 in Duisburg offenbarte, dass sich die Dinge grundlegend geändert haben. Und, dass es an der Zeit ist, sich auch gedanklich endgültig vom ehemaligen Erfolgstrainer der Braunschweiger Eintracht zu lösen. Warum das gar nicht so schlimm ist.
Wie gemischte Gefühle in einer Achterbahn
Eines vorweg: In der Tat muss ich zugeben, dass es nach wie vor gemischte Gefühle in mir auslöst, den 46 Jahre alten Fußballtrainer bei einem anderen Klub in der jener Rolle zu erleben, die ihn in meiner Heimatstadt einst so populär aber auch so umstritten machte. Für mehr als eine Dekade ging es unter ihm im Eiltempo von der 3. Liga bis hoch in die Bundesliga und letztendlich wieder zurück in die Niederungen der Drittklassigkeit. Gemeinhin nennt man so etwas Achterbahnfahrt. Und der Verein wird auch heute noch kräftig davon durchgeschüttelt. Nicht nur ich selbst war die ganze Zeit über mittendrin. Wir kennen diese Geschichte. Sie ist Teil der Legendenbildung im ehemaligen Zonengrenzland, wo die Uhren nunmal ein wenig anders ticken.
Nicht zuletzt wegen der angesprochenen Achterbahnfahrt fiel es dem blau-gelben Umfeld bisher schwer, sich innerlich vom Mythos Torsten Lieberknecht zu lösen. Hinnehmen und nach vorne blicken hieß die Parole. Die Mechanismen des allgegenwärtigen Geschäfts Fußball lassen uns schließlich heute schon vieles vergessen was gestern noch war. Doch so einfach war es diesmal nicht. Da blieb etwas zurück, lange nachdem die Tränen im Kieler Holstein-Stadion getrocknet waren.
Dieser Umstand machte die Arbeit vor allem für Lieberknechts Nachfolger nicht leicht. Der direkte, Henrik Pedersen, hatte schon verloren, da war er noch gar nicht in seinem Job angetreten – der Däne wusste es nur noch nicht. André Schubert erledigte seinen Auftrag messerscharf und rettete den Klub mit allen dafür notwendigen Mitteln. Menschlich blieb unter ihm aber einiges auf der Strecke. Dessen Nachfolger Christian Flüthmann war zunächst ein Versprechen, doch auch der 37-Jährige beging die Fehler, die ein junger Mensch wie er nunmal begeht. Seit November steht Marco Antwerpen bei Eintracht Braunschweig in der Verantwortung. Auch der 48-Jährige wird sich den Vergleichen mit Torsten Lieberknecht stellen müssen – nicht nur wegen der Frisur.
Diese vielsagende, ungewöhnliche Schärfe
Nach dem Remis beim Ligaprimus am vergangenen Samstag gipfelte dies alles zusammen in einen Augenblick. Antwerpen wirkte naturgemäß erleichtet und sprach davon, wie seine Mannschaft zurzeit einen Prozess durchlaufe und wie sie langsam zusammenwachse. Währenddessen saß zwei Stühle weiter links Torsten Lieberknecht und lauschte angeregt. Als er schließlich selbst zu Wort kam, wandte sich der gebürtige Pfälzer direkt an seinen Kollegen Antwerpen. Es verwundere ihn, dass die Diskussion in Braunschweig vor dem Spiel eine derartige Schärfe gehabt habe, so Lieberknecht.
Und da machte es Klick!!! In diesem Augenblick war es Gewissheit, dass Torsten Lieberknecht im Februar 2020 so weit von der Hamburger Straße entfernt ist, wie niemand sonst zwischen Oker und Wedau. Er, der die Geschicke der Braunschweiger Eintracht mit seiner typischen Art nachhaltig geprägt hat. Er, dessen Echo noch immer durch die Katakomben des Eintracht-Stadions hallt. Er, der seinem „Kleinen Pissverein“ nach außen hin so dicht abschottete, das er letzendlich mit wehenden Fahnen damit unterging. In diesem Zusammenhang haben wohl nur wenige Menschen mehr für die von Lieberknecht in dieser PK angesprochene „Schärfe vor dem Spiel“ getan, als er selbst es getan hat. Hat Torsten denn all das schon vergessen oder verdrängt?
Während ich in den letzten Tagen seit dem Spiel ständig darüber nachdenken musste, kam mir schließlich in den Sinn, dass diese Erkenntnis aus der PK der komfortbaleste aller Nullpunkte sein könnte. Wenn sich sogar Torsten Lieberknecht – der sicherlich schwer gelitten, gepokert, geweint und geflucht hat – von seiner Eintracht lösen kann, dann funktioniert das andersrum genauso gut. Dann kann sich auch diese Eintracht von einem Torsten Lieberknecht lösen. Dann wird es Zeit, dass ganz bewusst neue Geschichten geschrieben werden und sich zu den zahlreichen Mythen der letzten Jahrzehnte um Beinahe-Zweite-Deutsche Meisterschaften, Betriebsunfälle, Hubertushirsche und Flutlichtausfälle bei DFB-Pokalspielen einreihen. Es liegt einzig an den handelnden Personen! Ich jedenfalls wäre jetzt bereit dazu. Danke, Torsten!
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Dies ist ein Kommentar von Frank Vollmer. Die Meinung des Autors entspricht nicht zwingend der Meinung unserer Redaktion.