Dietmar Erler: "Der zweite Meistertitel hätte Eintracht Braunschweig verändert"

Als die Löwen wegen einer Niederlage die zweite Deutsche Meisterschaft verpassten.

von Henrik Stadnischenko


Training Ende der 1970er Jahre. Selbst Stars wie Paul Breitner bekamen da mal nasse Füße. Wir sprachen mit Dietmar Erler (2.v.r.) über die "Guten Alten Zeiten".
Training Ende der 1970er Jahre. Selbst Stars wie Paul Breitner bekamen da mal nasse Füße. Wir sprachen mit Dietmar Erler (2.v.r.) über die "Guten Alten Zeiten". | Foto: Hartmut Neubauer

Braunschweig. Die Spieler der Meistermannschaft von 1967 kennt wohl fast jeder Eintracht-Fan, doch welche Erinnerung ruft die Saison 1976/1977 hervor? In dieser Spielzeit hätte Eintracht Braunschweig zum zweiten Mal deutscher Meister werden können. Mit nur einem Punkt Rückstand musste man sich am Ende mit Tabellenplatz 3 zufrieden geben. Ursprünglich hatten wir vor, mit einem damaligen Akteur auf Spurensuche zu gehen, weshalb es nicht zur Meisterschaft gereicht hat. Stattdessen wurde es mit Dietmar Erler eine Zeitreise in eine komplett andere Fußballzeit.

"Die Niederlage gegen Bremen hat uns die Meisterschaft gekostet."


Es gibt Momente, die ein Fußballer nicht vergisst: Einer dieser Schicksalsmomente ist der 7. Mai 1977. Es ist kurz nach Wiederanpfiff in der Partie zwischen Eintracht Braunschweig und dem SV Werder Bremen, als sich der Werder-Libero Per Rontved in der 49. Spielminute ein Herz fasst und aus 30 Metern Entfernung unhaltbar für Bernd Franke ins Braunschweiger Tor trifft. Für wenige Minuten herrscht im Eintracht-Stadion eine Totenstille.

Von diesem Gegentor und dem daraus resultierenden Schock erholen sich die Braunschweiger Spieler nicht mehr und verlieren die Partie mit 0:1. Doch nicht nur die Partie haben die Spieler verloren: „Die Niederlage gegen Bremen hat uns die Meisterschaft gekostet“, blickt Dietmar Erler zurück, der in dem Spiel auf dem Feld stand und im Laufe der Saison aktiv daran beteiligt war, dass die Eintracht nach 1967 den zweiten Meistertitel hätte gewinnen können. In der Endabrechnung der Spielzeit 1976/77 fehlten zwei Punkte um alleine ganz oben zu stehen. So reichte es mit nur 43 Punkten für Tabellenplatz 3, hinter dem neuen und alten Meister Borussia Mönchengladbach (44 Punkte) und dem FC Schalke 04 (43 Punkte). Mannschaften wie Bayern München, Borussia Dortmund oder Werder Bremen musste man im Mittelfeld der Tabelle suchen.

Bei Bier und Hähnchen wurde sich die Meinung gegeigt. Kultwirt Helmut Conni Eckleben (li.) war wichtig für die Löwen-Seele.
Bei Bier und Hähnchen wurde sich die Meinung gegeigt. Kultwirt Helmut Conni Eckleben (li.) war wichtig für die Löwen-Seele. Foto: privat


„Jedes Mal wenn ich mich mit den anderen treffe, ist das erste Thema, warum mussten wir dieses Spiel verlieren. Wir haben alle an dem Tag versagt, wir als Offensivleute haben es nicht geschafft den Ausgleich zu erzielen und das ärgert mich heute immer noch“, erklärt Erler, der 266 Mal das Trikot mit dem roten Löwen trug. Neben Dietmar Erler standen Spieler wie Bernd Franke, Reiner Hollmann, Wolfgang Dremmler oder auch Danilo Popivoda im Kader.

Der zweite Titel hätte die Eintracht verändert


Hätte denn ein zweiter Meistertitel den Verein Eintracht Braunschweig verändert? „Auf jeden Fall“, wenn es nach der Eintracht-Legende Erler geht: „Eine zweite Meisterschaft hätte den Verein nochmal auf eine ganz andere Stufe gestellt. Schon damals hatte Eintracht Braunschweig einen besonderen Stellenwert und war ein Mythos. Mit dem Titel – da bin ich mir sicher – hätte die Eintracht bis Mitte der achtziger Jahre eine Glanzzeit erlebt und es wären wahrscheinlich noch andere, wahrscheinlich bessere Spieler nach Braunschweig gekommen. Neben der Niederlage gegen Bremen, tut es mir noch heute leid, dass wir es Monate später nicht geschafft haben, Paul Breitner in unsere Mannschaft voll zu integrieren. Paul war so ein überragender Kicker. Wenn wir das hingekriegt hätten, hätten wir bestimmt nochmal um die Meisterschaft gespielt. Zudem glaube ich hätte der Titel auch dafür gesorgt, dass viele Menschen endlich gewusst hätten, dass Braunschweig nicht in der DDR liegt“, erklärt Erler schmunzelnd und schiebt lachend nach: „Die Stadtvertreter erzählten immer wieder, das bis zum Bundesligastart 1963 einige Briefe sogar mit dem Adresszusatz Deutsche Demokratische Republik Deutschland angekommen seien und wenn es einen beruflich nach Braunschweig verschlagen hatte, mussten sie sich anhören, wieso geht man freiwillig in die DDR."

Der zweite Titel hätte die Eintracht verändert.
Der zweite Titel hätte die Eintracht verändert. Foto: Hartmut Neubauer


Doch was war das Erfolgsrezept für den damaligen Erfolg? Für Dietmar Erler war Trainer Branko Zebec der Chefkoch, der Zusammenhalt und die Grundtugenden innerhalb der Mannschaft die Zutaten für ein gelungene Saison. „Man kann von Branko Zebec halten was man will, aber er hat aus durchschnittlichen Spielern gute Spieler gemacht. Er hat uns auf ein anderes Level gehoben. Im Training war er unberechenbar. Wir konnten das Spiel am Wochenende gewinnen und er hat uns am Montag dermaßen zur Sau gemacht, dass wir keine Freude am Fußball halten. Es konnte aber auch sein, dass wir verloren hatten, wir dachten er reißt uns den Kopf ab und stattdessen gab er uns frei. Er hat uns ein Selbstvertrauen mitgeben, das war unfassbar. Egal, ob wir gegen Gladbach, Schalke oder die Bayern gespielt haben, wir hatten nie die Einstellung hoffentlich verlieren wir nicht, sondern der Fokus war immer darauf ausgerichtet, wie können wir den Gegner schlagen. Egal, wie groß er war und wie er hieß."

"Die Grundtugenden verinnerlicht"


Spielerisch und technisch seien die anderen Teams deutlich überlegengewesen, "aber wir waren erfolgreich, weil wir uns die Grundtugenden verinnerlicht haben. Eintracht stand seit je her für laufen, kämpfen, beißen. Diese Einstellung fehlt mir heute. Wenn ich mir die Heimspiele anschaue, da wird mir schlecht. Eigentlich steht es mir nicht zu urteilen, denn ich stehe nicht auf dem Trainingsplatz. Doch wenn ich mir die ganzen Alibipässe anschaue, kann ich mir nur an den Kopf fassen. Früher hatten die Mannschaften Angst, wenn sie ins Eintracht-Stadion gekommen sind, heute geben wir schon gefühlt freiwillig die Punkte ab“, erklärt Erler, der auch nicht jammern will in der Art „früher war alles besser“, vielmehr stört es ihn, dass die Spieler mit den heutigen Möglichkeiten zu wenig aus sich machen.

Man träumte von der großen Fußballwelt.
Man träumte von der großen Fußballwelt. Foto: privat


„Die heutigen Jungs haben alles, um ein erfolgreicher Bundesligaprofi zu werden. Eine qualitativ hochwertige Ausbildung, eine fantastische medizinische Betreuung und Trainingsbedingungen von denen wir nur träumen konnten. Es gab Trainingseinheiten, da sind wir mehrmals im Entengang von der Torauslinie bis zum Strafraum gelaufen. Dies reichte für heftigen Muskelkater über mehrere Tage und ist nach der heutigen Trainingslehre gewiss völlig falsch."

Zudem habe der Trainer entschieden, ob und wer verletzt war. "Außer man hatte Fieber oder ein gebrochenes Bein konnte man sich sicher sein, am Wochenende spielen zu müssen. Muskelverletzungen, die man heute kennt haben damals nicht offiziell existiert. Dann hieß es: Stell dich mit deinem Muskelkater nicht so an. Da ärgert es mich maßlos, wenn die Spieler heute zu schnell satt sind. Es ist wunderbar, wenn du viel Geld verdienen und damit deine Familie ernähren kannst. Geld sollte im Sport jedoch nie der Antrieb sein, der Antrieb sollte immer der sein, Titel zu gewinnen und besser als die anderen zu sein. Auch gebe ich den heutigen Trainern Schuld an der jetzigen Entwicklung. Klar ist der Fußball schneller und technisch besser geworden, aber wen interessiert es, ob man mit einer flachen Acht oder einer hängenden Neun spielt. Am Ende gewinnt die Mannschaft, die ein Tor mehr geschossen hat. Der Fußball muss wieder dahin kommen, dass er einfach wird. Die taktischen Vorgaben heute überfordern die Spieler öfters. Sie engen sie ebenso wiederholt ein“, verdeutlicht Dietmar Erler.

Für den Zusammenhalt nicht nur in der Saison 1976/77 sorgte ein gutes Gefühl im Magen, dass sich die Braunschweiger jeden Montagabend bei der Braunschweiger Gastromonie-Legende Conni einverleibten. „Bei Bier und Hähnchen haben wir uns die Meinung gegeigt. Es war eine Art Reinigungsprozess und Katalysator für unseren Erfolg. Probleme, die wir uns nicht in der Kabine sagen wollten sind dort ans Tageslicht gekommen. Selbst unser damaliger Co-Trainer Heinz Patzig kam unregelmäßig vorbei und musste sich Dinge anhören, nur Branko Zebec blieb der Veranstaltung fern“, erklärt Erler schmunzelnd.

Dietmar Erler erinnert sich gerne an die erfolgreichen Zeiten.
Dietmar Erler erinnert sich gerne an die erfolgreichen Zeiten. Foto: privat


„Trainingslager? Ich bitte Sie!"


Neben Branko Zebec und dem Zusammenhalt unter den Spielern, war sicherlich auch ein Trainingslager für den Erfolg verantwortlich? „Trainingslager? Ich bitte Sie! Das Höchste der Gefühle waren ein paar Tage in Barsinghausen. Wir haben uns vor jedem Heimspiel im Reitlingsthal einquartiert, in einer Art Jugendherberge und man kann sich vorstellen, warum die Jugendherberge eine Jugendherberge war und nicht den Anspruch von einem Hotel hatte. Trotzdem haben wir nie gejammert, weil wir den Fußball geliebt haben“, betont der heute 72-Jährige. Die fehlende Professionalität bei den Rahmenbedingungen spürten die Eintracht-Spieler auch in Sachen Gehalt.

„Ich habe mich nie beschwert, dass ich zu wenig verdient habe. Wenn man zu Braunschweig gewechselt ist, dann eher wegen den Fans und der Möglichkeit oben mitzuspielen. Selbst bei Hannover 96 hat man fast das Doppelte verdient. Ich fand es war ein Privileg für die Eintracht zu spielen. Ähnlich wie Kaiserslautern war Braunschweig Provinz und mit der Stadt konnte keiner etwas anfangen, aber der 1.FCK oder Eintracht war jedem Fan ein Begriff. In der Stadt wurde man häufig angesprochen, hatten wir das Spiel gewonnen wurden wir von fremden Leuten auf ein Bier eingeladen, hatten wir verloren hieß es, ihr Idioten hört bloß mit dem Fußball auf und sucht euch einen richtigen Job. Was mich all die Jahre fasziniert hat war die Tatsache, dass Braunschweig die Eintracht gelebt hat und sich eine Symbiose entwickelt hat. Die heutige Gefahr ist natürlich allgegenwertig, wie Essen, Aachen oder Offenbach zu enden, weil man sich zu schnell zufrieden gibt. Auch wenn es schon ein paar Jahre zurückliegt hätte der Abstieg aus der Bundesliga nicht sein müssen und der Abstieg aus der zweiten Liga war der Supergau“, so Erler.

Zum Abschluss unseres Gesprächs wollen wir von Dietmar Erler noch wissen, ob er alles wieder so machen würde? „Nein. Ich habe damals meine Karriere frühzeitig beendet, damit ich eine Stelle als Lehrer antreten kann. Heute würde ich wahrscheinlich ein Jahr länger spielen und darauf hoffen, dass die Stelle immer noch da ist“, sagt er zum Abschied lachend.

Rechtsverteidiger Dieter Zembski (li.) diskutiert mit Trainer Branko Zebec.
Rechtsverteidiger Dieter Zembski (li.) diskutiert mit Trainer Branko Zebec. Foto: Hartmut Neubauer


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