Braunschweig. Hitzige Diskussionen zwischen Fans und „Hatern“ sind ja modern und an der Tagesordnung. Bei Politikern wie Trump, Erdogan, Putin, Merkel gehören sie ja schon zu unserer täglichen, medialen Drogendosis. Relativ neu im Reigen der jeden Tag an den realen und virtuellen Stammtischen durchdiskutierten, durchbeleidigten oder hochgejubelten Persönlichkeiten sind beispielsweise Martin Schulz, Kevin Großkreutz oder die aktuellen Dschungelcamp-„Promis“. Und noch einer taucht im regionalen Kontext immer mal wieder auf – meist reflexartig, wenn Eintracht Braunschweig zwei Spiele hintereinander nicht gewinnt: Torsten Lieberknecht.
Heiliger oder Super-Kartoffel?
Und immer wieder bilden sich die beiden Fußball-„Experten“-Lager: Auf der einen Seite diejenigen, die "TL" ob seiner Leistungen für den Club in den Heiligen-Stand erheben. Auf der anderen Seite diejenigen, die eine durch den Trainer hervorgerufene Stagnation auf dem Weg zum Champions-League-Titel erkennen und ihn deshalb, teilweise erst seit wenigen Wochen und jederzeit umkehrbar, aktuell für eine Super-Kartoffel halten.
In der so traditionsbehafteten Diskussion um die Trainerposition im bezahlten Fußball spiegelt sich eine erschreckende Tendenz unserer Gesellschaft wieder: Wir verlieren auch hierbei komplett das Maß! Ähnlich wie in der Diskussion um politische, gesellschaftliche oder religiöse Themen, gibt es beim Austausch der Argumente vorzugsweise nur noch schwarz und weiß. Alle dazwischenliegenden Grautöne werden ausgeblendet. Vollpfosten oder Heiliger, Totalversager oder Alleskönner, Hassfigur oder Liebling der Massen.

Wann geht die Rechnung wieder auf? In Trainer Lieberknecht arbeitet es. Foto: Frank Vollmer
Schuld ist dieser Dieter
Ich persönlich glaube ja, Dieter Bohlen ist der Schuldige an allem. Als er damit begann, unter dem Gejohle der jugendlichen, intellektuell meist unaufdringlichen RTL-Zuseher, andere Menschen unflätig zu beleidigen, glaubten alle, das sei ab sofort in Ordnung. Wenn man sich nach einer solchen Bohlen-Lehrstunde dann bei Facebook auch noch einfach „Mickey_Mouse_98“ oder so nennt, ja dann kann man sowieso alles und jeden völlig anonym beleidigen oder bejubeln.
So erlebe ich es jeden Tag im Netz, wenn über Fußball diskutiert wird, über die Bundesliga, über Eintracht, über den Trainer, über einzelne Spieler. Schon während der Live-Übertragungen der Eintracht-Spiele und vor allem danach treffen sie dann explosiv und aggressiv aufeinander: Die Lieberknecht-Lover und die Lieberknecht-Hater. Kompetenz unwichtig, Ring frei!
Menschlich beeinflusst
Ich gebe hier jetzt mal den Vermittler, allerdings nicht ohne selbst auch Position in einem der Grauzonen-Bereiche zu beziehen. Nur schon mal vorweg ... es wird ein helles, pro-Torsten-grau sein.
Wie vermutlich mittlerweile fast alle Braunschweiger, habe ich Torsten Lieberknecht vor einigen Jahren persönlich kennenlernen dürfen und ihn seitdem immer mal wieder getroffen – meist in entspannter Partysituation. Man kommt in einem solchen Fall einfach nicht drumherum, den Menschen Lieberknecht echt sympathisch zu finden. Ich kenne auch niemanden, der das anders sieht! Durch die persönliche Bekanntschaft beeinflusst, beurteilt man seine Arbeit als Coach der Profis vielleicht tendenziell positiver, dennoch versuche ich im Folgenden neutral zu argumentieren.
Torsten Lieberknecht ist zweifelsohne ein kluger Kerl. Er weiß um seine Rolle und er weiß, dass man in seinem Beruf tunlichst Versprechen auch halten sollte. Davon hängt immerhin das eigene Schicksal ab. Hätte Torsten beispielsweise 2011 gesagt, er wolle in den nächsten 5 Jahren mit Eintracht Braunschweig Deutscher Meister werden, hätte man ihn in der Stadt in diesem Moment vermutlich noch mehr geliebt als ohnehin schon. Aber heute wäre er sicher nicht mehr Eintracht-Trainer. Insoweit ein guter Grund, die Meisterschaft nicht zu avisieren, oder?

Bekenntnisse sind Lieberknechtnicht fremd. Foto: Agentur Hübner
24 Fußballclubs und die Eintracht
Statt dessen hat sich Eintracht Braunschweig in der Vergangenheit nicht besonders weit aus dem Fenster gelehnt. Ein Platz unter den besten 25 Fußballclubs Deutschlands war also das erklärte Ziel der Saison 2016/2017. Aha! Das erntete wenig Kritik von den Fans. Die meisten finden es ja mal grundsätzlich super, wenn die Eintracht nichts mit dem Abstieg zu tun hat. Wir sind halt gebrannte Kinder in Braunschweig! Schnell gerechnet, bedeutet „beste 25“ also ein Platz im oberen Drittel der 2. Liga. Einverstanden! Es herrschte Ruhe in der Stadt. Der Torsten ist schon ein guter Typ. Finden alle.
Und dann passiert es wieder wie damals vor vier Jahren. Die Eintracht spielt eine starke Hinserie und mischt auf einmal oben mit. Die vorläufige Krönung erfolgt am 18.Dezember 2016 gegen 15.20 Uhr. Ich weiß das so genau, weil ich auf einer Geburtstagsfeier mit vielen Eintracht-Sympathisanten war. Die Eintracht hatte am Vortag als aktueller Tabellenführer nur 0:0 beim Abstiegskandidaten Karlsruher SC gespielt und damit wohl die greifbar nahe Herbstmeisterschaft verpasst. Umgehend konnte man in der Stadt mal wieder Gegrummel über die mutlose Spielweise wahrnehmen.
Dochdann passierte das Überraschende: Auch 96 spielt nur 0:0 und Stuttgart verliert gar 0:3 in Würzburg: Herbstmeister! Aus Gegrummel wird umgehend Partylaune. In meinem Fall gab es im kollektiven Meistertaumel schon nachmittags direkt ein paar Runden des Kräuterlikörs, dessen Logo mal auf Eintrachts Trikot prangte. Das passte einfach zur Situation. Und hey, Torsten Lieberknecht ist ohnehin der beste Trainer der Welt, stimmt’s? Prost!
Wie der Wind sich dreht
Nur fünf Spieltage später ist Eintracht nur noch Tabellenvierter, 7 Punkte hinter Tabellenführer Stuttgart, 2 Punkte hinter dem direkten Aufstiegsplatz, 1 Punkt hinter der Relegation. Vor der Saison hätte jeder Fan diese Tabellensituation nach Spieltag 22 begeistert abgenickt, aber nach der Herbstmeisterschaft derart abgeschmiert zu sein? Torsten Lieberknecht ist irgendwie doch kein guter Trainer – Angsthase, Taktikguru, Defensiv-Tucke!
Dieses sehr kurzfristig angelegte Beispiel zeigt, wie schnell sich Erwartungshaltungen und damit Stimmungen ändern können. Längst vergessen ist das, wonach sich Eintrachts Coach messen lassen wollte: unter den Top 25 Deutschlands zu landen. Interessiert niemanden mehr, sicherlich aber auch nicht ganz unberechtigt, wenn man Herbstmeister wird. Dennoch: Lieberknecht sieht täglich im Training das, was wir weitgehend kompetente Stadiongänger und TV-Zuseher nur einmal in der Woche beobachten können: Eintracht Braunschweig ist definitiv (noch) nicht stark genug für die 1. Liga! Sie waren es trotz zeitweiliger Tabellenführung auch in der Hinserie nicht, wenn man ehrlich ist. Wie dusselig wäre ein Trainer also, wenn er ein entsprechendes Ziel ausgeben würde und sich an einem Aufstieg messen lassen würde?
Frohe Ostern!
Lieberknecht hat sich mit dem Glücksaufstieg in die 1. Liga 2013 das dickste Ei selbst ins Nest gelegt. Seitdem glauben viele Fans, Eintracht sei ein Erstligist und man misst mit entsprechendem Maß. Um den Trainer aber wirklich zu beurteilen, muss man sein Gesamtwerk bewerten und eben nicht den Tabellenstand, das Einzelspiel oder den Moment: Jugendkonzept, Nachwuchsleistungszentrum, Zweitliga-Stabilität, volles Stadion, Sponsoren-Kultur. Nichts davon war vor 8 Jahren vorhanden, für nichts davon gab es ein Konzept. Eintracht ist aktuell noch kein Erstligist, man sieht es doch – von wenigen Ausnahmen abgesehen- jedes Wochenende! Aber man arbeitet daran und man ist auf einem guten Weg! Rückschläge wird es immer mal wieder temporär geben, aber die Linie ist weiterhin vorhanden/erkennbar und die Tendenz ist steigend.
Um ein Erstligist mit Potenzial zum längerfristigen Halten der Klasse zu sein, benötigt man ein solides Fundament, man muss immer mal wieder talentierte und geliebte Spieler verkaufen (siehe Bellarabi, Holtmann, etc.), um die erwirtschafteten Gelder erneut in junge, hungrige Talente reinvestieren zu können. Nur das ist „organisches Aufsteigen“ mit Hoffnung auf ein längerfristiges Verbleiben in Liga 1 und eben nicht ein Aufstieg, der mit unendlichen Geldreserven ermöglicht wurde. Und nur so geht es in Braunschweig oder hat jemand der Leser ein paar Millionen übrig und kann eine Alternative bieten?!
Geduld und Spucke
An dieser Strategie, die ähnlich in Freiburg oder Mainz umgesetzt wurde, wird seit längerem gut gearbeitet und es ist in diesem Kontext bislang nichts versprochen worden, was nicht gehalten wurde. Es ist sogar viel mehr erreicht worden, als man sich vor 8 Jahren in dieser Stadt vorstellen konnte. Ein Besuch im Kennel untermalt das beispielsweise. Ebenso die Tatsache, dass man sich heute bereits aus diesem dort –rasend schnell- etablierten Nachwuchspool bedienen kann. Das ist Lieberknechts und Arnolds Verdienst! Davon wird der Verein in Zukunft erheblich profitieren. Und hier liegt das Fundament für zukünftigen Erfolg.
Und nun die Gegenseite:
Auch ich habe erwartet, dass Eintracht sich innerhalb dieser Saison spielerisch weiterentwickelt, auch aus gewachsenem Selbstbewusstsein heraus. Stattdessen beobachtet man Stagnation und in Einzelfällen sogar Rückschritt. Allein von der Offensivabteilung mit den jungen Wilden Nyman und Abdullahi hatte man sich viel versprochen – und Kumbela ist ja auch noch da. Da war Hoffnung auf neue, kreative und super-offensive Spielsysteme. Dazu die flinke Unterstützung von den Außenbahnen: Khelifi, Omladic, Hernandez. Die Erwartungshaltung für Offensiv-Feuerwerke war groß, wurde jedoch vielfach enttäuscht.
Vielfach verblüfft sah man insbesondere auswärts ein ängstliches, statisches und in taktischen Zwängen gefangenes Team. Wie damals in der Bundesliga, als sich viele Fans ein weniger devot-respektvolles, sondern vielmehr freches Auftreten gewünscht hätte. Die Chance war auf ein weiteres Jahr Bundesliga mit gutem Verdienst war da – man nutzte sie einfach nicht, weil man leider keine selbstbewusste Frechdachs-Mentalität à la Darmstadt 98 entwickelte.
Warum lässt Lieberknecht es heute erneut nicht zu, auswärts mit dem Selbstbewusstsein und dem Selbstverständnis eines Tabellenführers aufzutreten? Warum nicht Risiko, warum nicht Pressing-Varianten, warum nicht bedingungslose Offensive, warum nicht mal selbst das Spiel machen?
Vielleicht weil Torsten weiß, was sein Team kann. Und vor allem, was sein Team nicht kann! Die taktischen Vorgaben von der Trainerbank sind sicherlich zu 100% auf die Fähigkeiten des Spielermaterials ausgerichtet, aber wo ist „Plan B“, wenn es mal nicht funktioniert? Und Plan A hat auch in dieser Saison trotz einiger, teils glücklicher Siege wahrlich nicht immer funktioniert. Manchmal glaubt man, dass die Mannschaft sich aus den strengen taktischen Vorgaben nicht ansatzweise befreien kann, wenn es denn mal angezeigt ist.
Aber auch hier setzt Lieberknecht auf bedingungslose Struktur, sogar in der Schlussphase bei Rückstand. Die berühmte „lange Naht nach vorne“, wenn noch 5 Minuten zu spielen sind, ist auf höchstem Niveau längst vorbei. Auch Bayern München schießt seine Tore in der Nachspielzeit eher mit taktischer Disziplin und Einhaltung der Positionen als mit hohen Bällen auf Lewandowski. Das wäre viel zu leicht zu verteidigen – es ist vielmehr probater Bestandteil des Amateur-Fußballs.

Nicht jeder Fan-Wunsch kann erfüllt werden. Foto: Agentur Hübner
Fußballlehrer belehren
Und hier liegt ein wichtiger Punkt der Diskussionskultur. Profi-Fußball ist etwas komplett anderes als studentische Bolzerei oder Kicken in der Kreisliga. Nicht jeder, der dreimal die Pille hochhalten kann, sollte sich anmaßen, einen Fußballlehrer zu belehren, der seit 25 Jahren im Profigeschäft agiert und dabei durchaus erfolgreich war.
Bedauerlicherweise diskutieren beim emotionalen Thema Eintracht Braunschweig alltäglich eben auch viele Blinde über Farbnuancen und Taube über Musikstile. Das vergiftet die Atmosphäre und hilft auch nicht weiter. Empfehlung: Einfach mal „die Fresse halten“ oder den Frust nach einem schlechteren Spiel am Boxsack rauslassen! Nicht immer nur gegnerische Fans beleidigen oder eigene Spieler/Trainer öffentlich kreuzigen!

"Ehrliche Persönlichkeit und realistische Selbsteinschätzung." Foto:
Realistische Selbsteinschätzung
Eintracht Braunschweig entwickelt sich gut – Punkt. Torsten Lieberknecht ist ein Trainer, um den uns ganz Fußball-Deutschland beneidet – Ausrufezeichen. Die Verdienste des Trainers sind unzweifelhaft, dennoch ist es mehr als legitim, ihn und den Verein auch mal zu kritisieren. Insbesondere wenn fußballkompetente Fans glauben, aus dem vorhandenen Spielermaterial könnte bei ein wenig erhöhter spielerischer Freiheit/Flexibilität möglicherweise auch noch mehr herausgeholt werden. Und auch diese letzte Frage muss erlaubt sein: Warum sagt man 11 Spieltage vor Schluss nicht einfach mal diesen bedeutenden Satz: Wir sind so nah dran – jetzt wollen wir unseren Erstliga-Traum auch nochmal verwirklichen!
Alle Beleidigungen in etablierter Dieter-Bohlen-Manier oder gewachsener Facebook-Kultur sowie eine generelle Infragestellung der Trainerverdienste verbieten sich aus meiner persönlichen Sicht in Braunschweig. Auch wenn ich Torsten Lieberknecht nur flüchtig kenne, so glaube ich an seine ehrliche Persönlichkeit und realistische Selbsteinschätzung, dass er es als Erster feststellen und seine Konsequenzen ziehen wird, wenn man seine Arbeit nicht mehr schätzt, wenn sein Job erledigt ist oder er das Team nicht mehr positiv beeinflussen kann. Hoffentlich fließt bis dahin noch viel Oker-Wasser durch unsere Stadt.
York Schlüter, Kolumnist, ehemaliger (Eintracht-)Torwart, Eventmanager
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Dies ist ein Beitrag von York Schlüter, der inhaltlich nicht zwingend die Meinung unserer Redaktion wieder gibt.