Braunschweig. Zehn Jahre Trainer Torsten Lieberknecht. regionalSport.de würdigt die bisherigen Leistungen eines besonderen Fußball-Trainers in der wohl schwersten Stunde seiner Laufbahn.
3.652 TageAnführer des Rudels
Als Torsten Lieberknecht am Montag, dem 12. Mai 2008, Benno Möhlmann auf dem Trainerstuhl ablöste, war wohl kaum abzusehen, dass der gerade einmal 34 Jahre alteEx-Profiganze 3.652 Tage später noch immer in der sportlichen Verantwortung bei diesemin der Vergangenheit sowankelmütigen Traditionsverein in Ostniedersachsen stehen würde. Es ist – soviel sei vorab bemerkt – eine außergewöhnliche Leistung in unserer schnelllebigen Zeit. Sogar den Meistertrainer von 1967, Helmuth Johannsen, hat Lieberknechtinzwischen hinter sich gelassen.
Anbesagtem Montag vor zehn Jahrentitelte dieBraunschweiger Zeitung noch,das Präsidium von Eintracht Braunschweig würde Trainer Möhlmann "den Rücken stärken und den Weg mit ihm bis zum Ende gehen". Heute weiß man, es warnicht die schlechteste Idee,zeitgleichhinter den Kulissennach einer Alternativezu fahnden. Präsidiumsmitglied und U19-Trainer Torsten Lieberknecht war diese Alternative.Mit sieben Punkten aus verbleibenden drei Spielen und etwas Schützenhilfe von der Konkurrenz schafften der neue Übungsleiter und sein Team das scheinbar Unmögliche.
Der Rettungfolgte die Legendenbildung
Nach der Rettung in die 3. Liga ging es für die Löwen und Trainer Lieberknecht stets bergauf. 2011 folgte der Aufstieg in Liga 2,zwei Jahre später der große Triumph. Nach 28 Jahren war Eintracht Braunschweig wieder indie Beletage des Deutschen Fußball zurückgekehrt. Zwarweilten die Blau-Gelbendort nur ein Jahr, doch war es Lieberknecht einmal mehr gelungen, mit Spielern zum Nulltarif unglaubliches zu leisten und lange Zeit den Traum vom Klassenerhalt mit Leben zu füllen.
Der gebürtige Pfälzer hatte sich zurecht einen Status erarbeitet, der über reine Fußball-Folklore hinaus ging. Eintracht Braunschweig hatte auf der Fußball-Landkarte wieder eine Relevanz. Medienschaffendenahmen dafür auch zähneknirschend in Kauf, dass sich der Verein neben seiner ausgesprochenen Sparkurs-Mentalität auch systematisch nach außen hin abschottete.
TaktikfanTorsten Lieberknecht stand in jedem Jahr aufs Neue vor der großen Herausforderung, aus eher mittelmäßigem Spielermaterial eine schlagkräftige Einheit zu formen. Mit dieser Methodik scheiterten die Löwen im Vorjahr nur knapp an SchiedsrichterSascha Stegemanns Fehlpfiff und sogar den eigenen Fans an der neuerlichen Rückkehrin die Bundesliga (wir berichteten). Die Ansprüche derBraunschweiger anihren Verein warenzwischenzeitlichenormgewachsen und aus heutiger Sicht ganz sicher auchzuweilen unrealistisch.

Eines von vielen Highlights der letzten zehn Jahre: Die Rekord-Bayern im Eintracht-Stadion. Das hatte Pep! Foto: Frank Vollmer
Hat Lieberknecht die Krise geahnt?
Und nun? Die Saison 2017/2018 ist die erste in derÄra Lieberknecht, in der es sportlich überhaupt nicht läuft. Die Gründe dafür sind vielschichtig wie zahlreich: Der Fluch einer gescheiterten Relegationsteilnahme (siehe auch KSC), die vertrackte Situation in der 2. Bundesliga, ein ausgesprochenes Verletzungspech bei Leistungsträgern und ungewöhnlich viele Neuzugänge, die nicht zünden wollten. Wohlgemerkt: Ausreden suchten die Verantwortlichen dabeizu keinem Zeitpunkt.
Dass diese Mannschaft vielleicht nicht wie gewünscht funktionieren könnte, erkannte Torsten Lieberknecht dagegen wohl schon nach dem 1:1 im Heimspiel gegen Erzgebirge Aue Mitte August. Wie sonst ist zu erklären, dass er sich mit einer im Nachhinein taktisch anmutenden emotionalenWutredeschützend vordie Mannschaft stellte, wie es gerne auch sein Zimmerkollege aus Mainzer Zeitenn, Jürgen Klopp, vorgemacht hat (wir berichteten). Die sportliche Talfahrt begann und nahm ihren Lauf.
Schon wurde die Kritik laut, der 44-Jährige sei nicht mehr in der Lage, die Mannschaft zu erreichen. Nur wenigeblieben dabei sachlich in ihrer Argumentation. Zuletzt wurden unsägliche Gerüchte, vor allem in den sozialen Netzwerken, in die Welt gesetzt, die nicht nur den Trainer, sondern auch sein Familienleben betrafen.
Der Trainer selbst begegnete all dem am gestrigen Freitag vor dem wegweisenden „Endspiel“ gegen Kiel: „Ich bin nicht in den sozialen Netzwerken aktiv und gehe lieber in den Plattenladen.“ Wie recht er doch hat! SchlussendlichemanzipierteLieberknecht sich sogar, fasste neuen Mut und ließ es raus: „Ich weiß um meine Stärken, sonst wäre ich nicht seit zehn Jahren hier Trainer.“ Endet die Ära Lieberknecht nach zehn Jahren und einem Tag in Kiel?Was immer nach Spiel Nummer 393 auch passieren mag, geleistet hat Torsten Lieberknecht eine Menge,als Typ, Mensch und Fußball-Lehrer.
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Dies ist ein Kommentar von Frank Vollmer. Die Meinung des Autors entspricht nicht zwangsläufig der Meinung unserer Redaktion.
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