Bertelsmann Stiftung: Reformen bei Minijobs und Ehegattensplitting könnten 60.000 neue Vollzeitstellen schaffen




Die derzeitigen gesetzlichen Bestimmungen bei Minijobs und Ein­kommensteuern von Ehepaaren verhindern das Entstehen von Arbeitsplätzen und fesseln Men­schen in der Geringfügigkeitsfalle prekärer Arbeitsverhältnisse. Dagegen könnten durch eine kom­binierte und gezielte Reform der gesetzlichen Regelungen für Minijobs und gleichzeitig eine Um­gestaltung beim Ehegattensplitting in Deutschland 60.000 neue Vollzeitstellen entstehen. Zusätzli­che Belastungen für den Staatshaushalt würden nicht entstehen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Simulationsrechnung, die das Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA) im Auftrag der Ber­telsmann Stiftung durchgeführt hat und bei der zahlreiche Reformansätze auf ihre möglichen öko­nomischen und sozialen Wirkungen durchgerechnet wurden. Die größten Effekte ließen sich nach der Studie erzielen, wenn einerseits das Ehegattensplitting zugunsten eines Realsplittings refor­miert würde und gleichzeitig ansteigende Sozialversicherungsbeiträge sowie Einkommensteuern für Minijobs neu festgelegt würden. Auf diese Weise ließe sich die Zahl der prekären Arbeitsver­hältnisse reduzieren zugunsten von zusätzlichen Vollzeitstellen mit einer besseren sozialen Da­seinsvorsorge. Und neben der positiven Beschäftigungswirkung würde das Reformpaket auch zu einer gleichmäßigeren Einkommensverteilung zwischen den Partnern in Paarhaushalten führen.

Für die Studie waren zunächst fünf verschiedene Varianten im Bereich der geringfügigen Beschäf­tigung in den Blick genommen worden, die von der ersatzlosen Abschaffung der Mini- und Midijobs bis zur Ausweitung der Einkommensgrenzen reichen. Beim Ehegattensplitting waren drei Alternati­ven durchgerechnet worden, die auf bessere Beschäftigungsanreize zielen. Die besonders positi­ven Effekte konnten berechnet werden, wenn in beiden Bereichen kombiniert und gezielt entspre­chende Reformen verwirklicht würden. Profiteure der Veränderungen wären vor allem Frauen, die ein verbessertes Einkommen, und bessere Aufstiegsmöglichkeiten erreichen könnten, bei einer gleichzeitigen Verringerung der Gefahr von Altersarmut. Profitieren könnten auch die sozialen Si­cherungssysteme.

Die Studie nimmt fünf verschiedene Reformansätze im Bereich der geringfügigen Beschäftigung in den Blick. Die isolierten Arbeitsmarkteffekte dieser Reformansätze lassen sich in zwei Gruppen einteilen: Bei den Varianten, die geringfügige Beschäftigung einschränken, bleibt das gesamtwirt­schaftliche Arbeitsvolumen nahezu unverändert und die Zahl der Beschäftigten steigt zwischen 33.000 bis 76.000. Demgegenüber werden aber auch mehr Tätigkeiten in Vollzeit oder vollzeitna­her Teilzeit ausgeübt. Die Varianten, die geringfügige Beschäftigung erleichtern, bringen dagegen zwischen 19.000 bzw. 95.000 mehr Menschen in Beschäftigung, führen aber auch zu einer weite­ren Zerstückelung der Arbeitsverhältnisse. Reformen, die ausschließlich bei den Minijobs anset­zen, erwiesen sich von ihren Beschäftigungswirkungen stets als ambivalent.

Auf Seiten des Ehegattensplitting wurden drei Alternativen zum heutigen Ehegattensplitting analy­siert: Eine komplette Abschaffung, ein Grundfreibetragssplitting mit einem übertragbarem Ein­kommen zwischen den Partnern in Höhe von maximal 8.004 Euro sowie einem Realsplitting mit einem maximal übertragbaren Einkommen von höchstens 13.805 Euro. Bei den beiden letzten Varianten entfiele der Splittingvorteil nicht gänzlich, er würde jedoch eingeschränkt. Damit betref­fen diese Reformansätze lediglich Ehepaare mit höherem und stark ungleich verteiltem Einkom­men. Alle drei Reformvarianten des Splittings lassen die Beschäftigung steigen. Bei der Abschaf­fung des Ehegattensplittings wären die Arbeitsmarkteffekte mit zusätzlich 77.000 Erwerbstätigen am höchsten. Nahezu genauso viele (76.000) würde das Realsplitting hervorbringen, während es beim Grundfreibetragssplitting noch 42.000 Personen sind. Außerdem entstünden bei der Ein­schränkung des Ehegattensplitting erhebliche Mehreinnahmen für den Staat: 24 Mrd. Euro bei der Abschaffung, 16 Mrd. Euro beim Grundfreibetragssplitting und immerhin noch 9 Mrd. Euro beim Realsplitting.

Erst die Verbindung aus Reformen bei Minijobs und Ehegattensplitting schließlich führt zu nen­nenswerten Beschäftigungseffekten, die sich sowohl in höherem Arbeitsvolumen als auch in mehr Stellen niederschlagen. Die bestmögliche Variante sieht vor, das gegenwärtige Ehegattensplitting durch ein Realsplitting zu ersetzen. Die Minijobs sollten ab dem ersten Euro der Einkommensteu­erpflicht unterliegen und steigende Beitragssätze zur Sozialversicherung aufweisen. Damit würde die heute bestehende Regelung für Einkommen zwischen 400 und 800 Euro auf den Bereich bis 400 Euro ausgedehnt. Das zusätzlich entstehende Steueraufkommen würde zur Absenkung des Einkommensteuertarifes verwendet. Durch diese Maßnahmen ließen sich 60.000 neue Vollzeit­stellen schaffen, die Zahl der Beschäftigten würde um 56.000 Personen zunehmen.

Unter den derzeitigen gesetzlichen Rahmenbedingungen sorgen Minijobs und Ehegattensplitting bislang noch dafür, dass vor allem Zweitverdiener in Paarhaushalten, zumeist Frauen, in geringfü­gigen Beschäftigungsformen verharren, obwohl sie aufgrund ihrer Qualifikationen und zeitlichen Möglichkeiten umfangreichere und anspruchsvollere Tätigkeiten ausüben könnten. Für die Betrof­fenen führt diese Geringfügigkeitsfalle zu schlechteren beruflichen Entwicklungsperspektiven, zu geringeren Ansprüchen in der Rentenversicherung und zu einer ausgeprägten Ungleichverteilung der Einkommen in den Haushalten. Gesamtwirtschaftlich mindert sich das Erwerbspotenzial und die wirtschaftliche Dynamik.

Die Experten der Bertelsmann Stiftung sehen in den aufgezeigten Reformoptionen daher große Chancen für Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen und eine gerechtere Gestaltung der Sozi­alsysteme. „Es kämen mehr Menschen in Arbeit, ohne dass dies zu einer weiteren Zerstückelung der Arbeitsverhältnisse führen würde“, so Eric Thode, Arbeitsmarktexperte der Bertelsmann Stif­tung. „Gerade Frauen, die etwa zwei Drittel aller derzeitigen Minijobber ausmachen, würden von den Reformen profitieren. Sie könnten ein höheres Erwerbseinkommen erzielen, hätten bessere Aufstiegsmöglichkeiten im Beruf und würden auch mehr eigene Vorsorge in der gesetzlichen Rentenversicherung betreiben, sodass nicht zuletzt auch das Risiko der Altersarmut geschmälert würde.“

Anders als in derartigen Modellen sonst üblich simuliert das Modell auch das Anpassungsverhalten der Arbeitgeber an veränderte Rahmenbedingungen. Dadurch kann ein umfassenderes Bild der voraussichtlichen Wirkungen gezeichnet werden. Ergänzend verweist der Arbeitsmarktexperte der Stiftung darauf, dass das Simulationsmodell ausschließlich analysiert, wie sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber angesichts der Reformvarianten, aber ansonsten unter den aktuell herrschenden Rahmenbedingungen verhalten würden. Die positiven Beschäftigungs- und Verteilungseffekte der genannten Reformen könnten noch größer ausfallen, wenn weitere Maßnahmen für die Vereinbar­keit von Familie und Beruf ergriffen würden, etwa ein weiterer Ausbau von qualitativ hochwertigen Ganztagesangeboten bei Kindergärten und Schulen, familienfreundlichere flexible Arbeitszeitmo­delle und mehr Möglichkeiten zu vollzeitnahen Teilzeittätigkeiten.


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