Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat eine Orientierungshilfe zum Thema Familie veröffentlicht. Der Text trägt den Titel „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit – Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“.
Bei der Vorstellung des Textes am heutigen Mittwoch im Diakonischen Familienzentrum TAM in Berlin-Kreuzberg betonte der Vorsitzende des Rates der EKD, Nikolaus Schneider: „Die Erwartungen an Familie und die Erfahrungen in Familie haben sich seit den biblischen Zeiten der Reformationszeit und besonders in den vergangenen Jahrzehnten sehr verändert. Familie heute existiert in sehr verschiedenen Formen.“ Gerade deshalb sei es nicht einfach, sich über Familie zu verständigen. Das gelte für die gesellschaftliche wie für die kirchliche Diskussion. In der neuen EKD-Orientierungshilfe, so Schneider, gehe es zum einem um eine Bestandsaufnahme der Wirklichkeit von Familien, um einen Blick auf die jüngere Geschichte der Familienpolitik in Ost und West und um die aktuellen sozialpolitischen Herausforderungen, zum anderen „um die Bedeutung biblischer Texte und evangelischer Theologie für unser Familienbild und die Bedeutung, die kirchliches Handeln angesichts der Brennpunkte der Familienpolitik heute haben kann.“ So würden Brennpunkte in Erziehung, Bildung und Pflege, in Zeitpolitik und Geschlechterfragen in der Orientierungshilfe differenziert entfaltet.
Zur biblisch-theologischen Einordnung sagte der Ratsvorsitzende: „Angesichts der Vielfalt biblischer Bilder und der historischen Bedingtheit des familiären Zusammenlebens entsprechen ein normatives Verständnis der Ehe als ,göttliche Stiftung‘ und eine Herleitung der traditionellen Geschlechterrollen aus einer vermeintlichen ,Schöpfungsordnung‘ weder der Breite des biblischen Zeugnisses noch unserer Theologie. Das „geschichtliche Gewordensein und der Wandel familiärer Leitbilder“ setze die Orientierungshilfe der EKD voraus, so Schneider. Dabei könne sie sich auch auf Martin Luther beziehen, denn bei aller Hochschätzung als „göttlich Werk und Gebot“ erklärte Luther die Ehe zum „weltlich Ding“, das von den Partnern gestaltbar sei und gestaltet werden müsse.“ Schneider: „Aus einem evangelischen Eheverständnis kann heute eine neue Freiheit auch im Umgang mit gesellschaftlichen Veränderungen erwachsen - im Umgang mit Geschiedenen genauso wie mit Einelternfamilie oder auch mit gleichgeschlechtlichen Paaren.“
Für die theologische Ethik, so der Ratsvorsitzende, sei die Familie „ein generationenübergreifender Lebensraum, in dem Verlässlichkeit in Vielfalt, Verbindlichkeit in Verantwortung, Vertrauen und Vergebungsbereitschaft, Fürsorge und Beziehungsgerechtigkeit“ zu gestalten sei. Schneider: „Nach wie vor ist Familie der erste und wichtigste Ort der religiösen Sozialisation. Weit mehr als Pfarrer, Pfarrerinnen, Lehrerinnen und ältere Jugendliche, prägen Eltern und Großeltern den Glauben der nächsten Generation. Wenn es um die Weitergabe von Glauben und Werten, Traditionen und Erfahrungen geht, brauchen Familie und Gesellschaft alle Generationen.“
Im Blick auf das Gelingen des eigenen Lebens, so Schneider, würden Partnerschaften immer wieder auf den Prüfstand gestellt: „Paare und Familien in Krisen zu begleiten, ihnen Hoffnung und Halt zu geben, ist deshalb eine wichtige Aufgabe der Kirche. In biblischer Perspektive, so Schneider weiter, „hat der Segen Gottes eine große Bedeutung: der Segen, der bei Trauung und Taufe einer Familie die Begleitung Gottes zuspricht; der Segen, der den Bund Gottes mit uns Menschen zum Ausdruck bringt und uns auch dann Zukunft verspricht, wenn wir scheitern.“
Die Vorsitzende der Ad-hoc-Kommission des Rates der EKD, die ehemalige Bundesministerin Christine Bergmann (Berlin), sagte anlässlich der Vorstellung in Berlin: „Wo Menschen auf Dauer und im Zusammenhang der Generationen Verantwortung füreinander übernehmen, sollten sie Unterstützung in Kirche, Staat und Gesellschaft erfahren. Dabei darf die Form, in der Familie und Partnerschaft gelebt werden, nicht ausschlaggebend sein“. Dabei, so Bergmann, gehe es nicht nur um „Anpassung an neue Familienwirklichkeiten“, sondern: „ Es geht darum, das Versprechen der Freiheit und Gleichheit aller Menschen ernst zu nehmen und Gerechtigkeit auch in der Familie umzusetzen.“
Die Änderung der Geschlechterrollen, die in den letzten Jahrzehnten auch rechtlich fixiert worden sei, habe, so Bergmann, genauso wie die wachsende Anerkennung der eigenständigen Rechte von Kindern erheblichen Einfluss auf das familiäre Zusammenleben. Bergmann: „Chancengleichheit und Fairness innerhalb der Familie sind ein entscheidender Wert. Das Leitbild der partnerschaftlichen Familie sollte der Maßstab für kirchliches Handeln bei der Unterstützung von Familien sein.“
Die stellvertretende Vorsitzende der Ad-hoc-Kommission, die Sozialwissenschaftlerin Ute Gerhard (Frankfurt a. Main/ Bremen) betonte in ihrem Statement, dass gerade in den Industrieländern die familiale Alltagsarbeit bzw. die Möglichkeit, für andere zu sorgen, zu einer knappen Ressource geworden sei. Gerhard: „Der evangelischen Kirche in Gemeinde und Diakonie mit ihrem spezifischen Zugang zu Familien, ihren Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, nicht zuletzt dem großen Kreis der ehrenamtlich Tätigen stellt sich hiermit ein breites Aufgabenfeld.“ Die Kirche habe damit die Chance, „Leitbildfunktionen zu übernehmen und ihr soziales Handeln an einem ‚Ethos fürsorglicher Praxis‘ auszurichten.“
Mit der Erkenntnis, so Gerhard, dass die private Alltagsarbeit in Familie und Partnerschaften sowie die Erziehung und Pflege der Kinder und Alten, überhaupt jede Form sozialer Hilfeleistung und gesellschaftlicher Solidarität, die eigentliche und unverzichtbare Grundlage gesellschaftlichen Reichtums und Zusammenhalts bilde, müssten die Prioritäten in der Sozial- und Wirtschaftspolitik grundlegend neu bestimmt werden.
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