Seit Anfang der 90er Jahre ist eine zunehmend wettbewerbliche Ausrichtung des Gesundheitswesens in Deutschland zu beobachten. Hilfsangebote werden als Dienstleistungen begriffen. Versicherte werden als Kunden betrachtet, die mit ihrer Suche nach Qualität den Wettbewerb um die beste Versorgung befördern. Mehr und mehr wird zwischen solidarisch abgesicherten Grundleistungen und privaten Ergänzungsleistungen unterschieden.
Auf dem Hintergrund der christlichen Sozialethik und der diakonischen Verantwortung der Kirche legt der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) eine Denkschrift vor, die nicht nur das Gesundheitssystem im engeren Sinne, sondern auch die Fragen der Gesundheitspolitik und schließlich die Verantwortlichkeit der Gemeinden in den Blick nimmt, Kriterien für eine gute Gesundheitspolitik entfaltet und Empfehlungen für die zukünftige Gestaltung gibt. Die Denkschrift mit dem Titel „‘Und unseren kranken Nachbarn auch!‘ Aktuelle Herausforderungen der Gesundheitspolitik“ wurde heute in Düsseldorf durch den Vorsitzenden des Rates der EKD, Präses Nikolaus Schneider, und den Vorsitzenden der Ad-Hoc-Kommission des Rates der EKD, Prof. Dr. Peter Dabrock (Erlangen), der Öffentlichkeit vorgestellt.
Die Denkschrift rufe die theologischen und sozialethischen Grundlagen unseres Gesundheitswesens in Erinnerung, so der EKD-Ratsvorsitzende. „Sie erinnert an den Zusammenhang von Gottesebenbildlichkeit und Menschenwürde, an die Verschränkung von Gottes- und Nächstenliebe, wie sie in Christi Gleichnis vom Weltgericht zum Ausdruck kommt: ‚Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25.40). Die Denkschrift erinnere an die Bedeutung sozialer Teilhabe, die in den Krankenheilungen Jesu sichtbar werde.
Es sei wichtig, auch bezogen auf die begrenzten wirtschaftlichen Ressourcen das rechte Maß nicht aus dem Blick zu verlieren, so Präses Schneider. Aber: „Wirtschaftliche Kalküle alleine reichen nicht aus, wenn es um die Gestaltung von Gesundheitspolitik geht.“ So müsse etwa im Arzt-Patienten-Verhältnis ebenso wie in den Arbeitsabläufen der Pflegekräfte der Stellenwert der Beziehungszeit gestärkt und diese Stärkung auch ökonomisch gewollt werden. „Derzeit haben sich, gerade auch in der Pflege, die Arbeitsabläufe so verdichtet, dass immer weniger Zeit für das persönliche Gespräch, für Anteilnahme und Begleitung bleibt“, so der EKD-Ratsvorsitzende.
Dies gelt angesichts der demographischen Entwicklung in besonderer Weise für die Pflege. „Der Pflegebedürftigkeitsbegriff muss endlich so beschrieben werden, dass er auch soziale
und kommunikative Aspekte und psychische Notsituationen zum Beispiel bei einer Demenzerkrankung angemessen berücksichtigt“, forderte Präses Schneider. „Deshalb muss die Pflegeversicherung finanziell so dynamisiert werden, dass die gesetzlichen Leistungen bei steigenden Tariflöhnen und der allgemeinen Preisentwicklung verlässlich bereitgestellt werden können, und sie muss alle Einkommensarten einbeziehen.“
Neben aktuellen Empfehlungen lenke die Denkschrift den Blick auch auf größere Zusammenhänge, erklärte der Vorsitzende der Ad-Hoc-Kommission, Prof. Dr. Peter Dabrock. „Gerade wenn man Gesundheitspolitik nicht nur als Geschäftsfeld eines gleichnamigen Ministeriums begreift, sondern sie intensiver verknüpfen würde mit anderen zivilgesellschaftlichen und politischen Aktivitäten, erschlössen sich nachhaltig neue Ressourcen zur Verbesserung des gesundheitlichen Status der Menschen im Lande – und so auch zum Vorteil für die klassische Gesundheitspolitik. Mit der vorliegenden Denkschrift bringt die Evangelische Kirche ihre feste Überzeugung zum Ausdruck: Die ohne Zweifel großen Herausforderungen der Gesundheitspolitik sind nur zu meistern, wenn endlich der Blick über die klassischen gesundheitspolitischen Handlungsfelder hinaus geweitet wird.“ So fordere die Denkschrift, auch Bildungsfragen, Familienförderung oder Fragen der Quartiersentwicklung in den Diskurs über Gesundheitspolitik einzubeziehen. „Umgekehrt bedeutet dies auch: In den genannten Bereichen schlummern bisher noch ungenutzte Ressourcen für ein tragfähiges und menschengerechtes Gesundheitssystem.“
Die Herausforderungen seien gewaltig, so Dabrock. Die Krise biete aber auch die Chance, sich der „Potentiale jenseits reiner Marktorientierung zu erinnern, die wir auch haben und nutzen sollten: Solidarität und Mitmenschlichkeit. Die vielfältigen Möglichkeiten, die die EKD benennt, Menschen wieder mehr in den Mittelpunkt der Gesundheitspolitik zu rücken, bieten starke Impulse für ein gerechtes und nachhaltig tragfähiges Gesundheitssystem. Mit der vorliegenden Denkschrift kann daher eine innovative Gesundheitspolitik möglich gemacht werden.“
Die Denkschrift des Rates der EKD „‘Und unseren kranken Nachbarn auch!‘ Aktuelle Herausforderungen der Gesundheitspolitik“ ist erschienen im Gütersloher Verlagshaus (ISBN 978-3-579-05964-8) und ist zum Preis von € 5,99 im Buchhandel zu beziehen. Sie ist auch im Internet nachzulesen unter http://www.ekd.de/EKD-Texte/gesundheitspolitk.html
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