LeserMeinung: Bürgerbeteiligung - Faire Mitsprache oder Feigenblattfunktion?






Seit Mitte 2012 lud die mittelgroße Kreisstadt die Einwohnerinnen und Einwohner zur Weiterentwicklung der Stadt ein. Von außen betrachtet gibt es zwei wichtige Anlässe für Stadtverwaltung und Politik, sich darum zu kümmern, was aus der Stadt in Zukunft werden soll. Kurzfristig läuft das Sanierungsprogramm, in das die gesamte Innenstadt seit jetzt 35 Jahren einbezogen ist, in zwei Jahren aus. Mittelfristig verändert sich auch hier die Altersstruktur der Bevölkerung.

Eine ganz neue Mode schwappt über uns herein. Bürgerbeteiligung ist das neue Credo. Wenn unangenehme Entscheidungen zu fällen sind, so der Befund aus der Psychologie, werden diese leichter akzeptiert und als sinnvoll integriert, wenn es zuvor die Möglichkeit gab, Einfluss auf die Entscheidung zu nehmen. So nervt Baulärm messbar weniger, wenn die Betroffenen informiert wurden, was geplant ist.

Deswegen also Bürgerbeteiligung. Nicht nur Information, „Abnahme“ des Konzeptes, nein, Mitarbeit beim Erstellen soll die Bindung der Betroffenen an die gefällten Entscheidungen verbessern.

Nur: Wer es wagt, Bürgerbeteiligung nicht von vornherein als das Allheilmittel abzukaufen, als das es uns angedient wird, muss sich mit ziemlich gemeinen Argumenten auseinandersetzen. Das erste: Das Mitläufertum, auf dessen Basis wohl das Dritte Reich gegründet wurde, soll endlich mit demokratischen Mitteln aus dem deutschen Kopf geschlagen werden und deswegen wird von uns Mitmachen als Zeugnis demokratischer Befähigung von uns Bürgerinnen und Bürgern gefordert. Wer sich nicht beteiligt, geht ein in die „vorbehaltlos akzeptierende Mantelbevölkerung“.

So einfach lasse ich mir aber meine möglicherweise abweichende Meinung nicht abkaufen. Genauso wenig, wie Steuern zu zahlen ausreicht, um sich an der politischen Willensbildung zu beteiligen, reicht es aus, der schweigenden Mehrheit zu unterstellen, dass sie „vorbehaltlos akzeptieren“ würde.

Das zweite: War früher noch Sachverstand ein Schutz gegen überstürzte, unbedachte Entscheidungen, so wird er heute als Ausdruck des überkommenen Herrschaftswissens zurückgespielt. Wer Sachkunde einfordert, verlange Unverschämtes, baue den einfachen






Bürgerinnen und Bürgern unzulässige Hürden auf, die die Äußerung des politischen Willens behindern würden.

Wie kommt es, dass wesentliche Teile der Stadtentwicklung auf einmal vor Volkes Füße gebreitet werden? Warum soll ich, einfache Einwohnerin der Stadt, mich in Workshops beteiligen, äußern, woran die Stadtentwicklung krankt und gar so etwas wie Therapie formulieren? Ich werde den Verdacht nicht los, dass genau hier ein wesentliches Moment der Feigenblatt-Funktion liegt. Kann die Stadtverwaltung und die verantwortliche Politik dann doch kalt lächelnd das Klötzchen der Verantwortung auf den Tisch derjenigen, die sich beteiligt haben (oder auch nicht) zurückwerfen. „Wir sind nur so gut wie die Vorschläge der Bürger.“ Das wird als Kompliment formuliert, ist aber ein Armutszeugnis für die Sachkundigen der Stadtentwicklung. Ich erwarte von fest angestellten Stadtplanern, Finanzmanagern, dass sie ihre Hausaufgaben machen und wenigstens eigene Konzepte mit in die Waagschale werfen. Und wenn es solche Stellen und Konzepte in der Stadtverwaltung nicht gibt – umso schlimmer. Dann hilft auch keine Bürgerbeteiligung mehr.

Das dritte: Projekte, deren Anträge mit dem Instrument „Bürgerbeteiligung“ ausgestattet sind, haben gute Aussichten, im Wettbewerb um Fördergelder sich weit vorne zu platzieren. Garniert mit Innovation, Kreativität und nachhaltiger Konkretheit wagt kaum ein Gremium den Antrag auf Sinn und Substanz zu prüfen.

Nachtrag: Inzwischen sind die Themen, die die Arbeitsgruppen der Quartiere zur Diskussion gestellt werden, formuliert. Ich frage mich, wozu ein sechzigseitiges Gutachten aus der ersten Phase erstellt wurde, wenn der mit Abstand wichtigste Punkt „Leben/Wohnraum“ nur noch für zwei Quartiere und auch da unter „ferner liefen“ als Handlungsfeld auftaucht.

Weiterhin hat sich das Projektteam kundig gemacht, ohne die Foren zu informieren, wie Immobilien kreativ, innovativ und nachhaltig genutzt werden könnten. Die hätten vielleicht auch gern das Malefiz-Spiel mit Immobilien-Bewertung gespielt...

Haben die Stadtoberen die Bürger mit den Krähen verwechselt, die sie vergrämen wollen?

Renate Wieland, Wolfenbüttel




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