Wolfenbüttel. In Bezug auf die Veranstaltung zum 77. Gedenktag der Reichspogromnacht in Braunschweig erreichte die Redaktion ein Leserbrief von Jürgen Kumlehn. Der Leserbrief soll an dieser Stelle unkommentiert und ungekürzt veröffentlicht werden:
"Lieber Gutmensch als Arschloch"
Als Teilnehmer der ruhigen und würdigen Gedenkfeier der Jüdischen Gemeinde war ich später bestürzt über eine Rede anlässlich der vom Braunschweiger Bündnis gegen Rechts veranstalteten Kundgebung auf dem Fritz-Bauer-Platz unter dem Titel "Reichspogromnacht 9. November 1938 - Erinnern, Gedenken, Handeln!" (Ich fand diesen Platz für eine Veranstaltung zum Pogrom für
weit besser geeignet als den "Platz der Deutschen Einheit.)
Schon bald nach einer sachlichen Eröffnungsrede des Bündnis-Sprechers David Janzen ergriff Dirk Bitterberg, Stellvertretender Vorsitzender des AWO-Vorstandes in Braunschweig, das Wort. Bitterberg begann seinen Beitrag sachlich mit Erinnerung an die damaligen Vorgänge, steigerte sich dann jedoch in ein inhaltliches Niveau, das äußerst peinlich wurde. Zitate seiner Rede sind
in der bisherigen Berichterstattung über die Kundgebung nicht zu finden. Da Bitterbergs Äußerungen sich aber sehr von den Inhalten der anderen Redner in einer für den Gedenkanlass äußerst unwürdigen Art und Weise unterschieden, muss auch darüber berichtet werden. Immerhin ging es um das Andenken von Menschen, die nach 1933 aus Deutschland flüchten mussten, um nicht von den Nationalsozialisten in trauter Gemeinschaft mit vielen Deutschen ermordet zu werden.
Bitterberg wandelte seine Gedenkrede um in eine Suada von zum Teil obszönen Beschimpfungen Andersdenkender. Ich empfand seine Rede gegen Pegida und Bragida, die ich glücklicherweise auf Tonband aufnehmen konnte, als die eines Hass-Redners, der sich so auf eine Stufe mit seinen Gegnern stellte. Bitterberg lehnte auf Anfrage eine Weitergabe des Redetextes mit der Begründung ab, sie sei als "vergänglich" gedacht gewesen. Er habe seine dem Anlass geschuldete Empörung ausgedrückt. Mit einer Weitergabe dieser Rede, die er als "deftig" bezeichnet, wolle er die Kontrolle über seine Worte nicht verlieren.
Ich halte es für wichtig, diesen Vortrag im vollen Wortlaut zu veröffentlichen. Ich möchte mich an dieser Stelle erst einmal noch auf kurze Zitate und Ausdrücke beschränken: Die Rede strotzte von Begriffen wie widerlich und verkommen, armselig und kleingeistig, klein karierte Dumpfbacken von Pegida, die sich in ihrer eigenen Dämlichkeit suhlen, die sabbernd Wir sind das Volk brüllen, Einfaltspinsel, Mitläufer und Brandstifter, rechtsextreme Rattenfänger, Einfalt, Engstirnigkeit, charakterliche Niedertracht, Zombies, dumpfbackige Pappnasen, die sich besoffen schreie, usw.
Bitterberg wörtlich: Er sei lieber Gutmensch als Arschloch. Eine Aussage soll hier vollständig zitiert werden: Ein Pferd, eine Kuh und ein Reh essen alle dasselbe Zeug. Gras. Das Reh scheidet kleine runde Kügelchen aus, die Kuh einen flachen
Fladen und das Pferd produziert Klumpen getrockneten Grases. Warum, denken sie, ist das so? Keine Ahnung, wird die Antwort lauten. Na klar keine Ahnung. Aber sie fühlen sich kompetent genug, um über Flüchtlinge zu lamentieren. Da sind sie beim Thema Scheiße schon überfordert.
Am Schluss begab er sich dann noch ins Christentum und aktivierte auch noch St. Martin als ungarisch-römischen Soldaten, einen türkischen Bischof als Nikolaus, einen aramäischen Wanderprediger als Jesus, er nannte syrische Hirten und persisch-arabische Sterndeuter als die drei Heiligen Könige. Was, so Bitterberg zum Schluss, würde wohl passieren, wenn diese Gruppe an einem Montag im Advent an Bragida vorbei zum Weihnachtsmarkt gehen wollte? In seinen Abschlussworten rief er zum Kampf für eine weltoffene und bunte Gesellschaft auf, für gute Nachbarschaft aller Kulturen, Ethnien und Religionen.
Anders als in Braunschweig war es in München gelungen, Pegida-Versammlungen am 9. November zu verbieten. Herr Bitterfeld hätte ähnliche Worte sprechen können - wie z.B Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde: Die Maske ist längst gefallen. Pegida ist eine offen rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische und damit menschenverachtende Bewegung. Bitterfelds Rede wurde vom Publikum, wenn er seine obszönen Tiraden besonders betonend ins Mikrofon sprach, mit heftigen Beifallskundgebungen belohnt. Eine für mich makabre Erfahrung an einem Abend, an dem vor 77 Jahren der Pogrom auch in Braunschweig vorbereitet wurde. Die mehr als 1000 Menschen, von denen manche Bitterfelds Rede auch als schlimm empfanden, standen mit dem Rücken zur Fassade des Gerichts- gebäudes auf dem Fritz-Bauer-Platz, in dem diese Worte in Stein gemeißelt worden sind: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Dimitri Tukuser, ein Vertreter der Liberalen Jüdischen Gemeinde Wolfsburg/Region Braunschweig, erinnerte in seiner kurzen Rede an diesen Satz. Er hatte nicht im Sinn, Menschen, die nicht seiner Meinung sind, die Menschenwürde abzusprechen.
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