Einen herzlichen Empfang gab es für Christoph Ransmayer (l.) Foto:
Gestern abend füllte der österreichische Autor Christoph Ransmayr die Herzog-August-Bibliothek (HAB) bis auf den letzten Platz. Er las vier Kapitel aus seinem neuen Werk "Atlas eines ängstlichen Mannes". Auf Einladung der Lessing-Akademie und in Kooperation mit der Buchhandlung Behr fand die Lesung in der Augusteerhalle der HAB als "konzertierte Aktion" statt, so Organisator Dr. Helmut Berthold.
Als eine Art konzertierte Aktion könnte man auch beschreiben, was Christoph Ransmayr zu Beginn wie folgt erläuterte: "Aus dem Zusammenschießen der Zeiten resultiert jener vorsichtige Schritt mit dem wir unserer Wege gehen." Die den Atlas verbindende Angst sei keine lähmende, sondern ein Überlebensinstrument, führte der Autor aus. "Jene Spielform der Vorsicht, die uns als Haltung dazu bringt, zu überlegen, was uns in der Vergangenheit zugestoßen ist und was uns noch drohen könnte. Mit ihr erheben wir uns über den Augenblick."
Erhabene Augenblicke waren es auch, in denen Ransmayr vier der 70 selbst erlebten Episoden seines "Atlas eines ängstlichen Mannes" in solcher Intensität vorlas, daß der Zuhörer das Gras riechen, das Schnaufen des Stieres hören und den Flußlauf des Mekong spüren konnte. Erhaben ist aber auch Atlas, der die Welt in Händen hält, ohne unter ihrer Last zu zerbrechen und sie in eine neue Zeit trägt. Das poetische Prinzip des Atlasses erklärt Ransmayr mit der Möglichkeit, "sich aus einem vertrauten in einen unbekannten Ort zu versetzen". Und so könne man das Buch eben durchblättern, durchlesen und durchstöbern. Vor und zurück, hin und her, ein Instrument der Orientierung, ein Handwerkszeug für den Leser, der sich seinen eigenen Weg durch die Welt Ransmayrs bahnen darf. Gestern abend ging der Pfad vom Luftangriff über Die Übergabe bis zum Tod in Sevilla und endete mit Flugversuche.
In allen vier Geschichten war der Kampf der Lebenden gegen die Wucht der Elemente zu spüren. Die Last der Welt - als Krieg, Tod oder Bedrohung dargestellt - wurde immer aber gespiegelt in einem Moment der Hoffnung, der ihr gegenübersteht. Die Angst als Überlebensinstrument ist heute ein gängiger wissenschaftlicher Topos, mit dem die lebensnotwendige Adrenalinausschüttung unserer Vorfahren beschrieben wird. Wir müssen nicht mehr flüchten, sondern können innehalten. Wie der Vater, der das Geschäft des Bootführens an seinen Sohn in dem Moment übergibt, als er sich im Angesicht der Gefahren des Mekongs entschließt, mit seiner den Sohn leitenden Hand nur die wellengleichen Falten seines Seidenhemds glattzustreichen.
Das Relikt der Angst wird zur "Todesdrohung, die über jeder Figur dieses Tanzes lag", wie es im Tod in Sevilla heißt. Als der andalusische Stier mit dem Tode ringt, wird jedoch die Tragik sichtbar, die "die Unterdrückung seiner Todesangst noch ungeheuerlicher macht". Das Tier unterliegt nicht dem Torrero, sondern seinem unbedingten blinden Kampfwillen, der die Hoffnung zunichte macht.
Und doch sind es manchmal die Instinkte, die das Überleben sichern, wie Ransmayr einen Protagonisten in Neuseeland lernen läßt. "Der Königsalbatross ist ein Wesen, das sich für die Nahrungssuche von seinem Nachwuchs weiter entfernt als jedes andere Tier." Der ehemalige Linienbusführer ist gelähmt vom Tod seiner Frau, er kartographiert nun Nistplätze von Königsalbatrossen. Seine dreijährige Tochter protestierte auf den Verlust der Mutter mit einem einjährigen Entwicklungsstillstand. Die Angst offenbart bei Ransmayr im Moment des Innehaltens aber immer auch den Hoffnungsschimmer, der den Weg in die Zukunft erlaubt. Wie der junge Albatross, der im Warten auf die Rückkehr der Eltern, sich am Ende beflügelt von Radionachrichten ikarusgleich in die Lüfte schwingt, ist auch das Mädchen flügge geworden und hat seine Angst überwunden. Das Ende eines beschwingten Abends über das Doppelantlitz der Angst, die wie ein Atlas zwischen Vergangenheit und Zukunft vermittelt.
Die anschließende Signierstunde war gut besucht Foto:
Die am Bücherstand der Buchhandlung Behr erworbenen Exemplare signierte der Autor geduldig, während sich Geschäftsführer Martin Geißler über "die vielen zufriedenen Gesichter" freute. Dr. Helmut Berthold von der Lessing-Akademie berichtete indes von dem endlich geglückten Versuch, den eher publikumsscheuen Schriftsteller nach Wolfenbüttel zu locken. "Wir haben mit dem Raum in der HAB geworben." Ein Raum, in dem es noch weitere geschichtsträchtige Atlanten gibt.
Christoph Ransmayrs "Atlas eines ängstlichen Mannes" ist 2012 im S. Fischer Verlag erschienen, im Buchhandel erhältlich und kostet gebunden mit 455 Seiten rund 25 Euro.
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