Viele Teilnehmer des Bürgerprojekts, aber auch Neuinteressierte folgten der Einladung ins Rathaus Foto:
Gestern abend versammelten sich rund 100 Bürger im Ratssaal, um nach einem Vortrag von Dr. Hans-Henning Grote über die Wolfenbütteler Stadtidentität zu diskutieren. Es war der gelungene Auftakt der Reihe "Rathausgespräche", die gezielt über einzelne Aspekte der Entwicklung der Innenstadt informieren sollen und zugleich eine Brücke schlagen zur zweiten Arbeitsphase des Bürgerbeteiligungsprojektes, die voraussichtlich im Sommer beginnen wird. Die Veranstaltung begann mit der Suche nach einer "Stadtseele". Am Ende verständigten sich die Anwesenden auf einen breit angelegten Kulturbegriff. "Leute wohnen und leben lassen in Wolfenbüttel", sprach Projektleiterin Kira Breuhammer das Fazit des Abends aus.
Breuhammer berichtete zunächst, daß die ersten Zwischenergebnisse des Bürgergutachtens in den politischen Gremien "positiv bewertet und wißbegierig aufgenommen wurden". Das Ziel des groß angelegten Projektes ist die Entwicklung der Wolfenbütteler Innenstadt als Wohn- und Lebensraum. Die Beteiligung der Bürger soll einerseits die Akzeptanz der späteren Maßnahmen sichern und andererseits abbilden, was sich die Wolfenbütteler tatsächlich wünschen für ihre Stadt.
In fünf Rathausgesprächen werden Fachleute Impulsreferate zu den Themen Identität, Kultur, Planung, Quartier und Service halten und dann gemeinsam mit Interessierten diskutieren. Projektmitarbeiterin Valerie Dubiel führte gestern abend zunächst mit einem Platonzitat in das Thema Identität ein. Der antike Philosoph skizzierte die Stadt als "gemeinsamen Körper", dem eine "Stadtseele" eingehaucht sein müsse. Im Anschluß gab Museumsdirektor Hans-Henning Grote Einblicke in verschiedene historische Identitätskonzeptionen der Stadt.
Blaue Felder bedeuten unteres Einkommen, rote Felder entsprechen mittlerem Einkommen Foto:
Er betonte dabei, daß sich die Stadt immer wieder neu erfunden habe, beispielsweise als Residenzstadt nach dem Umzug der welfischen Herzöge oder im Zeitalter der Industrialisierung, als die erste deutsche Staatsbahn, zugleich die zweitälteste deutsche Eisenbahn durch Wolfenbüttel fuhr. Aber auch als die Stadt sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von einem "Lumpenbüttel" zu einem florierenden Mittelzentrum ausbaute. Noch in den sechziger Jahren mußte der Großteil der Bevölkerung mit sehr wenig Geld auskommen, wie Dr. Grote anhand einer Grafik verdeutlichte. "Diese Stadt hat sich immer wieder regeneriert und erneuert. Es ist keine Museumsstadt", unterstrich der Historiker.
Valerie Dubiel griff die provokante Frage Grotes auf, ob es denn richtig sei, daß Herzog August auf dem Stadtmarkt prange anstelle des eigentlichen Stadtgründers Herzog Julius und eröffnete damit die Publikumsdiskussion.
Immer wieder ging es in der Debatte um die Unterschiede in der Innen- und Außenwahrnehmung einer Stadt. Außen, so war man sich schnell einig, wirke vor allem Jägermeister und die Kulturstätten sowie Lessing. Verlassen dürfe man sich darauf indes nicht. Jemand erinnerte an Gerhard Polt: "Die Taliban, wenn die in der Hölle sitzen, müssen einen Jägermeister nach dem anderen trinken."
Lebende Erinnerung: sie kannte noch das alte Café am Harztorplatz Foto:
Nachholbedarf gäbe es im Bereich der Bildung, insbesondere der Fachhochschule und Studenten, aber auch im touristischen Bereich. Deutlich wurde zugleich, daß sich erst mal die Menschen und Familien hier vor Ort mit der Stadt identifizieren müssen, bevor sie es nach außen tragen können. "Mehr Leben muß her", hieß es im Publikum. Auch die Auseinandersetzung mit den engagierten Zeitgenossen müsse erfolgen.
Eine Stimme kritisierte, das Konzept sei "überfrachtet mit Worten und Visionen", aus denen nicht eindeutig hervorginge: "Was wollen wir denn eigentlich?" Der ebenfalls anwesende Bürgermeister Thomas Pink gab zu, die Stadt habe es in den 50er und 60er Jahren verpaßt, sich eine Identität zu geben: "Wir haben es schlicht und ergreifend verschlafen."
Jetzt aber sei die Zeit zu handeln und eine Stadt zum Wohnen und Leben zu entwickeln. Ein letzter Vorschlag aus dem Publikum suchte den Konsens und sprach sich für einen breiten Kulturbegriff aus, unter dem nicht nur die Historie zu fassen sei, sondern auch die alltägliche und moderne Kultur.
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