Wolfsburg. Eine Kamera, eine Person, eine Geschichte: Seit 2022 führen Aleksandar Nedelkovski und Dr. Alexander Kraus vom Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation (IZS) im Rahmen des Oral-History-Projekts lebensgeschichtliche Interviews mit Wolfsburgern, die in erster oder zweiter Generation aus anderen Ländern eingewandert sind. Die ersten 25 Interviews werden sich nun auf den Weg nach Köln machen: in das Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (DOMiD). Dies teilt die Stadt mit.
Das DOMiD sammelt seit mehr als dreißig Jahren sozial-, kultur- und alltagsgeschichtliche Zeugnisse von Migranten. Dr. Robert Fuchs, Geschäftsführer von DOMiD e.V., betont, dass die Interviews Aufnahme in die „bundesweit einzigartige Sammlung“ finden und dort „über die Datenbank der wissenschaftlichen Forschung und der Öffentlichkeit zugänglich“ sind. Und er eröffnet noch eine weitere Perspektive: „Derzeit konzipiert DOMiD ein bundesweites Migrationsmuseum unter dem Arbeitstitel ‚Haus der Einwanderungsgesellschaft‘. Durch die Kooperation des IZS mit DOMiD werden die Interviews auch dort einen Platz finden.“
Über das Oral-History-Projekt
Mit dem Oral-History-Projekt versucht das IZS, eine gravierende Leerstelle in der kommunalen Überlieferung zu schließen: Migrationsgeschichte wird in den Archiven oft nur unzureichend abgebildet – meist nur dann, wenn Zuwanderung Probleme verursacht hat. Doch Stadtgesellschaften sind nicht statisch, sondern befinden sich durch Zuwanderung in einem steten Wandel. Dies gilt für Wolfsburg ganz besonders. Wenn sich Stadtarchive längst vom „Gedächtnis der kommunalen Verwaltung“ zu einem „Gedächtnis der Stadtgesellschaft“ weiterentwickelt haben, dann gilt es, die Sammlungsbestände zu erweitern, denn im Bereich Migrationsgeschichte wurde auf kommunaler Ebene jahrzehntelang nicht spezifisch gesammelt und archiviert.
Das IZS hat bereits mehr als 40 migrationsgeschichtliche Interviews geführt – mit Menschen aus Afghanistan, Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Griechenland, dem Iran, Italien, Japan, Pakistan, Portugal, Tunesien und vielen mehr. Die Vielfalt der Migrationsgeschichten spiegelt sich in der Vielfalt der interviewten Personen und ihrer Lebensgeschichten, die sie nach Wolfsburg geführt haben.
Einblick in bewegende Wolfsburger Migrationsgeschichten
Sylvia Mosur ist, ehe sie 1986 mit ihrer Familie aus Polen in die Bundesrepublik übersiedelte, bereits 1979 ein erstes Mal auf Einladung des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes zu einem Sommerkurs in Stuttgart gewesen. Im lebensgeschichtlichen Interview erzählt sie, es sei geradezu ein „Kulturschock“ gewesen, als sie als Frau aus dem Ostblock das erste Mal im Westen gewesen sei. Es habe sie aber „nicht das Materielle beeindruckt, nicht die vollen Häuser, Kaufhäuser und diese tollen Möglichkeiten, die man hatte. Mich hat ganz einfach die Freiheit fasziniert. Ich konnte es nicht begreifen, dass Menschen dort einen Reisepass zu Hause in der Schublade deponiert haben.“ Dies sei für sie „unvorstellbar“ gewesen. In Polen musste erst ein Visum beantragt und genehmigt werden, für das man extra in der Botschaft habe vorstellig werden müssen. Nach der Rückkehr musste der Reisepass direkt wieder bei der Polizei abgegeben werden. Sie habe die Freiheit „fasziniert […], mit der man über politische Dinge gesprochen hat, für die man bei uns im Ostblock … ins Gefängnis gegangen wäre. Und das war für mich die erste Begegnung, die wiederum mich veranlasst hat, zum Nachdenken: Wo lebe ich überhaupt?“
Pedro Tomás Gaete Cardemil wiederum migrierte in den 1970er Jahren aus Chile zunächst in die Schweiz und von dort später in die Bundesrepublik. Er erlebte als Teenager den Militärputsch und die Diktatur und berichtet im Oral-History-Interview, wie er Zeuge wurde, wie in seinem Viertel Menschen ermordet wurden, die beispielsweise der falschen Ideologie, dem Kommunismus anhingen. Er erlebte den Ausnahmezustand, die alltäglichen Durchsuchungen auf offener Straße, „und dann in diesem Viertel die Menschen, die jeden Tag geholt und auch manchmal erschossen auf der Straße wurden, das haben wir, auch die Kinder und Jugendlichen, gesehen.“ Aus dem Versuch, das Böse zu verstehen, „entstanden für mich religiöse, existenzielle Fragen, die ich bis dahin so nicht hatte“. Menschen lassen ihre Diktaturerfahrungen nicht zurück, sie werden durch sie geprägt. In unserem migrationsgeschichtlichen Oral-History-Projekt geht es eben auch darum, diese Dimensionen freizulegen.
Als Monika Teufel sich in den 1980er Jahren gemeinsam mit ihrem Mann dazu entschloss, für sie beide und ihre Tochter einen Ausreiseantrag aus der DDR zu stellen, spürte sie die Konsequenzen bereits am nächsten Tag. Sie hatte als gelernte Industriekauffrau im Buchungsmaschinenwerk Chemnitz im Bereich Lohnzahlungen, Kalkulation und Produktion gearbeitet, doch mit Einreichung des Ausreiseantrags, sie wisse das noch wie heute, „hieß es, sofort in die Produktion, weil für die Abteilung nicht mehr tragbar“. Als „Geheimnisträger“ durfte sie ihre „Tätigkeit […] dann nicht weiter ausüben“. Ab dann wurden sie und ihr Mann regelmäßig zu den obligatorischen „Aussprachen“ einbestellt, bei denen „natürlich immer einer von der Staatssicherheit mit dabei“ gewesen war. Dort haben sie massive Drohungen erfahren. So wurde ihnen beispielsweise gesagt: „Ja, wir geben Ihnen sofort eine Fahrkarte, Ihr Kind bleibt hier und Sie können gleich in den Westen fahren.“ Es sind die großen Themen wie die deutsch-deutsche Teilung und das, was es mit den Familien machte, wenn Eltern und Geschwister zurückgelassen wurden, die über die individuellen Geschichten begreifbar werden.
mehr News aus Wolfsburg