Braunschweig. Am heutigen Montag findet die Auftaktverhandlung im Kapitalanleger-Musterverfahren der Deka Investment GmbH gegen die Volkswagen AG und die Porsche Automobil Holding SE am Oberlandesgericht Braunschweig statt. Das berichtet das Oberlandesgericht Braunschweig in einer Pressemitteilung.
Aufgrund des erheblichen öffentlichen Interesses und der sehr hohen Zahl der Beteiligten hat der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts im Congress Saal der Stadthalle Braunschweig verhandelt. Für die Beteiligten des Prozesses, also Musterparteien und Beigeladene, waren insgesamt rund 60 Personen erschienen. Daneben wohnten zahlreiche Medienvertreter sowie Zuschauer der mündlichen Verhandlung bei. Für die US-amerikanischen und andere englischsprachige Beigeladene wurde simultan übersetzt.
In seiner Einleitung hat der Vorsitzende Richter am Oberlandesgericht Dr. Christian Jäde ausgeführt, dass Gegenstand des Kapitalanleger-Musterverfahrens die im Vorlagebeschluss des Landgerichts Braunschweig vom 05.08.2016 enthaltenen 193 sog. Feststellungsziele seien. Diese Feststellungsziele beträfen tatsächliche und rechtliche Fragen, die einem möglichen Schadensersatzanspruch der klagenden Kapitalanleger zugrunde liegen. Zusätzlich habe sich der Senat mit mehreren Erweiterungsanträgen zu befassen, mit denen weitere 54 Feststellungsziele eingebracht werden sollen.
Weitere Stellungnahmen notwendig
Dabei betonte der Vorsitzende zunächst, dass in der mündlichen Verhandlung geäußerte Einschätzungen des Senats nur eine vorläufige Beurteilung darstellten. Es müssten für eine endgültige Bewertung ebenso wie für die Frage, ob der Senat Beweis durch die Vernehmung von Zeugen erheben muss, weitere Stellungnahmen der Prozessbeteiligten abgewartet werden.
„Die rechtlichen Problemstellungen sind zum Teil so komplex, dass eine Festlegung des Senats auf einen Lösungsweg zum jetzigen Zeitpunkt – also bevor die Beteiligten Gelegenheit zur ergänzenden Stellungnahme hatten – nicht möglich ist“, so der Vorsitzende Richter. Von der Einschätzung des Senats zu diesen Problembereichen aber hänge es ab, inwieweit die hierzu vorgetragenen Tatsachen wesentlich seien und damit auch, ob Beweis erhoben werden müsse. Ein abschließender Zeitplan für diesen Prozess liege daher noch nicht vor.
Der Vorsitzende gab sodann einen Überblick über die Feststellungsziele und die in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen. Im Mittelpunkt stünden die von Seiten der Kläger angenommenen Verletzungen der sog. Ad-hoc-Mitteilungspflicht, also der Pflicht von im Inland börsennotierten Unternehmen, Insiderinformationen unverzüglich zu veröffentlichen. Dabei sei der Zeitraum von 2005 bis zur Veröffentlichung der Ad-hoc-Mitteilung von VW vom 22.9.2015 umfasst.
VW formuliert eigene Feststellungsziele
Für diese Ansprüche stützen sich die Ausgangskläger sowohl auf die damals geltende Haftungsregelung des Wertpapierhandelsgesetzes (§ 37b WpHG in der Fassung vom 28. Oktober 2004), als auch auf den Tatbestand der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung (§ 826 BGB). Auch die Frage, ob VW unvollständige Geschäftsberichte erstellt habe, spiele bei einer möglichen Schadensersatzpflicht eine Rolle. VW hält sämtliche in den Ausgangsverfahren vor dem Landgericht erhobenen Ansprüche für unbegründet und hat eigene Feststellungsziele formuliert.
Eine Herausforderung des vorliegenden Falles in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht besteht nach den Ausführungen des Vorsitzenden Richters darin, dass es sich um einen zeitlich gestreckten Vorgang handelt, der – jedenfalls nach Ansicht der Musterklägerin und Beigeladenen – zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Verletzung der Ad-hoc-Mitteilungspflicht gibt. Problematisch sei in diesem Zusammenhang, auf wessen Kenntnis der Manipulation für die kapitalmarktrechtliche Mitteilungspflicht abzustellen sei. Nicht weniger schwierig sei die Beurteilung der Kursrelevanz. Denn die Pflicht zur Veröffentlichung einer Insiderinformation setze voraus, dass diese im Falle ihrer Veröffentlichung den Börsen- oder Marktpreis des Insiderpapiers erheblich beeinflussen könne. Dies könne für die einzelnen Zeitpunkte und Umstände, die Gegenstand der Feststellungsziele seien, unterschiedlich zu beurteilen sein.
Weiterhin würden die Parteien darüber streiten, ob die VW AG von ihrer Mitteilungspflicht im Hinblick auf die Gespräche mit den US-amerikanischen Umweltbehörden befreit sei. Schließlich stelle sich im vorliegenden Fall auch eine Verjährungsproblematik. Weil die absolute Verjährungsfrist nach der seinerzeit geltenden Fassung des § 37 b Wertpapierhandelsgesetz für Schadensersatzansprüche wegen unterlassener unverzüglicher Veröffentlichung von Insiderinformationen drei Jahre seit der Unterlassung betragen habe, könnten nach vorläufiger Ansicht des Senats die Ansprüche bis zum 9. Juli 2012 verjährt sein.
Erkenntnisse aus Studien relevant
Dagegen könnten die Erkenntnisse ab der ICCT-Studie und den Ermittlungen der US-amerikanischen Umweltbehörden EPA und CARB ab Mai 2014 durchaus kapitalmarkrelevante Insiderinformationen darstellen. Für einen Anspruch auf Schadensersatz bedürfte es aber dann noch weiterer Voraussetzungen wie etwa ein Verschulden.
Bei den Feststellungszielen, die Ansprüche wegen sittenwidriger vorsätzlicher Schädigung im Blick haben, muss nach den Ausführungen des Vorsitzenden Richters Dr. Jäde zusätzlich zu den Voraussetzungen einer Veröffentlichungspflicht nach dem Wertpapierhandelsgesetz eine besondere Verwerflichkeit des Handelns bzw. hier des Unterlassens hinzukommen, die im Einzelnen festzustellen sei
Diese Sittenwidrigkeit sei im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zu beurteilen, wobei es insbesondere auf die Frage ankommen könnte, ob die Veröffentlichungsbedürftigkeit einer Insiderinformation offensichtlich war. Der Senat hat hier Zweifel zumindest an der Offensichtlichkeit geäußert.
"Eine Reihe von Rechtsfragen zu beantworten"
Bei den Feststellungszielen, die die Geschäftsberichte und Halbjahresberichte der VW AG zum Gegenstand haben, gehe es im Kern darum, ob die Musterbeklagte ihre gesetzliche Verpflichtung zur Erstellung vollständiger Geschäftsberichte und Halbjahresfinanzberichte verletzt habe. Dies könne der Fall sein, wenn sie finanzielle Risiken aus dem Komplex der Abgasmanipulation verschwiegen und keine Rückstellungen für diese Risiken ausgewiesen habe. In diesem Zusammenhang sei, so der Vorsitzende Richter, eine Reihe von Rechtsfragen, die die Rechnungslegung betreffen, zu beantworten.
Wenn die Voraussetzungen für Schadensersatzansprüche vorlägen, stelle sich schließlich die Frage, inwieweit der Anleger darlegen und beweisen müsse, dass ihm durch die unterlassene Ad-hoc-Mitteilung ein Schaden entstanden sei. Hier wäre zum einen die Frage der Ursächlichkeit zwischen Ad-hoc-Pflichtverletzung oder unzutreffender Jahresberichte bzw. Halbjahresberichte und der konkreten Anlageentscheidung zu beantworten. Zum anderen wäre zu klären, worin der Schaden bestehe und wie er zu berechnen sei.
Hintergrund:
Dem Kapitalanleger-Musterverfahren liegen rund 1.650 Schadensersatzprozesse mit mehr als 3.500 Beteiligten vor dem Landgericht Braunschweig zugrunde. Der Gesamtstreitwert der Forderungen, für die das Kapitalanleger-Musterverfahren binden ist, beträgt fast 4 Mrd. Euro. Bis zum Abschluss des Kapitalanleger-Musterverfahrens werden die Verfahren vor dem Landgericht nicht weiter betrieben. Das Kapitalanleger-Musterverfahren vor dem Oberlandesgericht endet mit einem Musterentscheid, gegen den die Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof zulässig ist. Nach rechtskräftigem Abschluss des Kapitalanleger-Musterverfahrens werden die Verfahren vor dem Landgericht weitergeführt. Die Feststellungen und rechtlichen Bewertungen im Musterentscheid sind dabei für die Verfahren vor dem Landgericht bindend.
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