Berlin. In ärmeren und kleineren Staaten der Europäischen Union erhalten Patienten im öffentlichen Gesundheitswesen offenbar nicht die besten Arzneimittel gegen Krebs und andere schwere Krankheiten.
Der Grund sei, dass die öffentlichen Gesundheitssysteme die von den Pharmakonzernen geforderten hohen Preise häufig nicht bezahlen können oder die Firmen die öffentliche Bezahlung gar nicht erst beantragen, berichten "Süddeutsche Zeitung", NDR, WDR und das Journalistenteam "Investigate Europe" nach einer gemeinsamen Recherche. In der Folge hängt die Lebenserwartung für Tausende EU-Bürger davon ab, in welchem Mitgliedsland sie leben.
Nach einer Auswertung des unabhängigen deutschen Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) kamen in den vergangenen fünf Jahren 32 neue Medikamente auf den Markt, die die Überlebenschancen für Krebskranke nachweislich verbessern oder die besser wirken als bisherige Arzneien - zum Beispiel gegen die schwere Lungenkrankheit Mukoviszidose, aber auch gegen Arthritis oder Hautkrankheiten. Die Reporter haben in allen 27 EU-Staaten recherchiert, wie viele dieser neuen Medikamente im öffentlichen Gesundheitssystem nicht zur Verfügung stehen.
Die Recherche zeigt anhand von konkreten Zahlen, dass der Zugang zwischen den EU-Staaten höchst ungleich ist. Nur in Deutschland und Österreich bezahlen die Krankenkassen tatsächlich alle 32 Arzneimittel, denen das IQWiG einen bedeutenden Zusatznutzen bescheinigt hat. In Estland, Lettland und Litauen hingegen fehlen für die Patienten im öffentlichen Gesundheitswesen etwa 30 Prozent der Mittel, in Zypern die Hälfte, in Malta 59 Prozent. In Ungarn werden sogar drei Viertel der neuen Medikamente nicht von der staatlichen Gesundheitskasse erstattet, sondern nur auf individuellen Antrag.
Auch in Rumänien kann die staatliche Krankenkasse bisher gleich sechs lebensverlängernde Krebsmedikamente mangels Geldes nicht erstatten. Tausende Patienten ziehen deshalb vor Gericht, um die Bezahlung zu erzwingen.
Der Grund für die ungleiche Versorgung ist, dass es den EU-Regierungen nicht gelingt, eine gemeinsame Gesundheitspolitik zu betreiben, schreiben die Autoren. Zwar erfolgt die Zulassung neuer Arzneien zentral über die in Amsterdam ansässige Europäische Medizinagentur EMA - aber ob und zu welchen Kosten diese Medikamente dann in den einzelnen EU-Ländern vertrieben werden, das können die Pharmafirmen frei entscheiden. Die Bedingungen müssen nationale Behörden einzeln mit den Herstellern aushandeln.
Dabei können die Pharmakonzerne die Preise für ihre Produkte beliebig hoch ansetzen. Gleichzeitig zwingen sie die nationalen Unterhändler, die dann tatsächlich ausgehandelten Preise geheim zu halten. So verhindern die Pharmamanager, dass sie die Rabatte, die sie großen Ländern wie etwa Frankreich gewähren, auch anderen Staaten anbieten müssen. In der Folge fordern die Hersteller von den kleineren und ärmeren Staaten im Osten und Süden der EU häufig weit mehr, als sie in den großen und reicheren Staaten bekommen. Wenn manche EU-Staaten diese nicht bezahlen können oder wollen, bekommen die Patienten nicht die beste verfügbare Medizin.
Der frühere zyprische Gesundheitsminister Giorgos Pamborides bezeichnet diese Geheimnistuerei als Missbrauch der Marktmacht der Industrie. Sie würde einzelne Länder gegeneinander ausspielen, "indem sie uns in getrennte Räume sperrt". Er erinnert sich, dass Zypern in seiner Zeit als Gesundheitsminister "doppelt, dreifach oder sogar fünfmal so hohe Preise wie andere Länder zahlte".
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