Braunschweig. Ein Wissenschaftler-Team der Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) erhält am 8. November 2019 den Technologietransferpreis der Industrie- und Handelskammer Braunschweig für die gelungene Weitergabe einer mess- und fertigungstechnischen Meisterleistung aus der Forschung in die Industrie. Die Rede ist von hochreinen, extrem runden Siliziumkugeln, die die neue Definition des Kilogramms verkörpern. Die PTB informiert in einer Pressemitteilung.
Was genau einem Kilogramm entspricht, lagerte bislang in einem Safe in Paris: das „Urkilogramm“. Es wurde festgelegt, um in Zeiten eines immer internationaler werdenden Handels, die globale Einheitlichkeit von Masse-Maßstäben zu gewährleisten. Die Internationale Handelskammer (IHK) erklärt, wieso jetzt ein neues Ur-Kilo nötig wurde: Durch das Voranschreiten der Messtechnik und neuere Erkenntnisse der Physik ließ sich jedoch feststellen, dass es trotz der sorgfältigen Aufbewahrung und seltenen Nutzung über die Jahre einen Teil seiner Masse verloren hatte. Damit sei die weltweite Definition einer ständigen Änderung unterworfen gewesen. Aus diesem Grund wird das Kilogramm seit dem 20. Mai 2019 durch eine unveränderliche Naturkonstante definiert, die über hochreine Siliziumkugeln verkörpert werden.
Ein Team von Wissenschaftlern der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, repräsentiert von Dr.-Ing. Prof. Frank Härtig, Katharina Lehmann, Dr.-Ing. Rudolf Meeß und Thomas Wiedenhöfer, machte es sich zur Aufgabe, ein Fertigungsverfahren für eine extrem runde Siliziumkugel für industrielle Anwendungen in die Wirtschaft zu transferieren. Das damit neu entwickelte Schleif- und Polierverfahren übertrug die PTB an die J. Hauser GmbH & Co. KG, die auf die Herstellung von hochpräzisen Oberflächen spezialisiert ist und die Kugel als Sekundärnormal für Metrologische Institute, Kalibrierlaboratorien und Waagenhersteller fertigt. Weiterhin wurde das Know-how zu Handhabung, Lagerung und Transport der Kugeln der Häfner Gewichte GmbH übertragen, die neben dem Vertrieb der Sekundärnormale auch Reinigungs- und Handhabungsutensilien, sowie Schulungen zum fachgemäßen Umgang mit Siliziumkugeln anbieten. Durch das Transferprojekt Si-kg sei eine einzigartige schlüsselfertige Infrastruktur geschaffen worden, die den weltweiten Bedarf an hochstabilen Sekundärnormalen bediene.
Der richtige Umgang
Die Kugeln greifen könnte die von Dr. Christian Löchte und Holger Kunz entwickelte Formhand-Technologie. Die beiden ehemaligen Studenten der Technischen Universität Braunschweig verfolgten bereits während ihres Studiums die Idee, mit einem möglichst geringen Aufwand unterschiedlichste Gegenstände ergreifen, anheben und positionieren zu können und entwickelten Greifer für Industrieroboter, die flexibel, anpassungsfähig und universell einsetzbar sind. Die Greifer nutzen den Effekt, der von vakuumverpacktem gemahlenem Kaffee bekannt ist: im Normalzustand ist er leicht fließend, einem Unterdruck ausgesetzt aber hart und stabil. Die Formhand-Greifer bestehen aus einem granulatgefüllten, flexiblen Kissen, das sich durch Absaugen der Luft an die zu greifende Form anpasst und so am Gegenstand fixiert ist.
Im Rahmen eines vom BMWi geförderten Transferprojekts konnte Kirsten Büchler gewonnen werden, die das Team mit ihrem kaufmännischen Wissen abrundet. Mit der Ausgründung der Formhand Automation GmbH, sind alle drei seit Januar 2017 als geschäftsführende Gesellschafter tätig.
Diese beiden unterschiedlichen Wissenstransfers in die wirtschaftliche Praxis erhielten am 8. November den mit 10 000 Euro dotierten Technologietransferpreis der IHK Braunschweig. „In beiden Projekten lief die Transferleistung in vorbildlicher Weise“, lobte der Jury-Vorsitzende Dr. Edgar Lins. „Eine vergleichende Wertung ist aufgrund der unterschiedlichen Konstellationen nicht möglich gewesen, so entschieden wir uns gemeinsam mit IHK- Präsident Helmut Streiff, den diesjährigen Preis zu teilen“, begründete er die Entscheidung.
Was wird transferiert?
Eine neuartige Fertigungsmaschine mit einer patentierten Lagerung sowie eine komplexe Fertigungskette ermöglichen die Herstellung der genauesten Kugeln der Welt. Diese haben eine extrem glatte, gleichmäßige und komplett schädigungsfreie Oberfläche, die nötig ist, um das Volumen der Kugel in der erforderlichen Genauigkeit zu ermitteln. Das Fertigungsverfahren wurde samt dem notwendigen Know-how im Rahmen des Förderprogramms TransMeT von der PTB an die J. Hauser GmbH & Co. KG und somit in die industrielle Verwertung transferiert.
Da es sowohl beim Reinigen als auch beim Transport der Kugeln äußerst wichtig ist, dass keine Mikrokratzer die Oberfläche beschädigen, hat die PTB ihr Know-how zur Handhabung, Lagerung und zum Transport der Kugeln ebenfalls weitergegeben. Empfänger war die Häfner GmbH, die neben Reinigungs- und Handhabungsutensilien mittlerweile auch Schulungen zum fachgemäßen Umgang mit Siliziumkugeln anbietet.
Die PTB war maßgeblich an der Neudefinition des Internationalen Einheitensystems beteiligt, das am 20. Mai 2019 in Kraft getreten ist. Seitdem ist das alte Urkilogramm „in Rente“. Die an seine Stelle getretenen Siliziumkugeln haben den entscheidenden Vorteil, dass sie mit dem richtigen Material und Know-how im Falle eines Verlustes oder einer Beschädigung reproduziert werden können.
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