Der „West Side Story“-Regisseur: „Ein Happy-End macht mich misstrauisch“

von André Ehlers




Braunschweig. Dass die „West Side Story“ ein Publikums-Magnet sein würde, war ihm zuvor klar. Dass das Burgplatz-Open-Air allerdings jetzt schon restlos ausverkauft ist, überrascht Philipp Kochheim dann doch. Der Operndirektor des Staatstheaters inszeniert das Musical. Jetzt freut er sich sehr, dass es am 24. Juli noch eine Zusatzvorstellung geben wird (Verkauf ab Dienstag, 15. April).


Kochheim ist jetzt seit genau einem Jahr in Braunschweig. Seine erste Inszenierung der Oper „Anna Karenina“ brachte ihm viel Anerkennung und Lob ein. BraunschweigHeute.de hat den gebürtigen Hamburger im Staatstheater besucht:

Interview


[image=8771 alignleft]Nach einem Jahr in Braunschweig und der ersten erfolgreichen Inszenierung: Sind Sie in der Stadt und am Theater mittlerweile so richtig angekommen?

Kochheim: Ja, ich bekomme das Gefühl dafür. Wenn ich hier durch die Straßen schlendere und ich ständig angesprochen werde, die Leute sehr offen und ehrlich auf mich zugehe  und sagen, dass es schön war, ihnen gefallen hat, sie sich freuen und darüberhinaus sehen dürfen, dass ein Stück wie „Anna Karenina“, was ein Wagnis war, da es ein unbekanntes Stück ist, sich hervorragend verkauft, nähert sich das einem Angekommen sein.

Was sagen denn die Leute zu Ihnen?

Kochheim: Es ist das Phänomen, dass Regie meistens über die Bilder wahrgenommen wird über die Bilder, die sie erzeugt. Die wenigsten Leute sagen, tolles Konzept oder spannende Art mit einem Stück umzugehen, sondern es wird gesagt, dass man sich darüber freut, dass man etwas für die Augen hat, was sehen kann und mitgenommen wird, in eine andere Welt. Das ist so der Hauptpunkt.

Sie sagen, egal ob Musical oder Theater, Hauptsache gutes Theater. Was ist denn aus Ihrer Sicht gutes und was ist schlechtes Theater?

Kochheim: Schlechtes Theater - da gibt es so viel - das würde unsere zeit sprengen. Ein gutes Theater ist ein Theater, was mich als Menschen des 21. Jahrhunderts anspricht, was mich berührt, was mich zum Nachdenken bringt. Darüberhinaus ist mir jede Genre-Zusschreibung oder jedes Label, was man dem verpassen könnte, völlig egal. Ich denke nicht darüber nach. Ich brauche im Zentrum eines Stückes Menschen, die eine Geschichte zu verhandelt haben und ich brauche Emotionen und Gedanken, die das bei mir auslösen. Dann ist es ein Theater, das ich spannend finde.

[image=8772 alignright]Sie sagten auch: Zum Glück gibt es bei der „West Side Story“ kein Happy-End. Auch bei „Anna Karenina“ stirbt die Hauptfigur am Ende. Ist Philipp Kochheim ein herzloser Mensch?

Kochheim: Ich hoffe nicht. Es ist ja tatsächlich so, dass wir uns alle einig sind, was traurig oder tragisch ist. Da findet man ganz schnell eine Übereinkunft mit seinem Publikum. Wenn jemand stirbt, wenn jemand verlassen wird. Während wir uns alle  vermutlich viel länger streiten würden, was komisch ist oder was ein positives Ende ist. Zum einen ist es da schwierig an einem Punkt, an einem Ende eines Stückes anzukommen, der alle in einer Emotion verbindet. Und zum anderen sind wir einfach in diesem wahnsinnig aufgeklärten, modernen, avangardistischen Theater so daran gewöhnt, dass alles irgendwie skeptisch betrachtet werden und alles noch in Zweifel gezogen werden muss. Dass man sich als Regisseur merkwürdig vorkommt, wenn alle am Schluss sagen: „Ja, alle Fragen sind beantwortet, gehen sie nach Hause.“ Das hat auch damit zu tun, dass ich immer spannender finde, wenn Theater Fragen stellt oder offen lässt als wenn es sie beantwortet. Ein Happy-End ist immer eine Form einer vorläufigen Antwort. Da bin ich vielleicht mißtrauisch?!

Der Tod des Helden ist doch aber auch eine ziemlich endgültige Angelegenheit?!

Kochheim: Der Tod ist endgültig, aber was die einzelnen Leute daraus machen oder was es für andere bedeutet, ist ja die interessante Frage. Und bei „Anna Karenina“ zum Beispiel ist es ja weniger der Punkt, dass sie stirbt, sondern dass sie sagt, ich kann mit diesen Konzepten, die mir die Männerwelt angeboten hat, nicht leben. Ich entziehen mich dieser männlichen Definition von Welt und das ist, glaube ich, viel stärker das Thema am Schluss, als dass sie jetzt vor den Zug springt.

[image=8773 alignleft]Wann haben sie das letzte Mal im Theater oder Kino ehrlich geweint?

Kochheim: Ich gestehe, dass es mir im Film sehr viel leichter fällt. Vermutlich weil wir da irgendwie diese künstlerische oder künstliche Ebene sehr schnell bereit sind zu vergessen und uns viel mehr oder leichter reinziehen lassen. Außerdem bin ich kein Film-Regisseur. Also, wenn ich Theater gucke, bin ich mit meiner „déformation-professionnelle“ sofort dabei uns sage, oh je, das ist schlecht beleuchtet oder diesen Effekt habe ich schon drei Mal bei Castorf gesehen und nehme sofort noch ganz andere äußerliche formale Botschaften wahr, die mich von der Geschichte entfernen. Ehrlich gesagt habe ich das letzte Mal im Konzert geweint. Mir passiert es sehr leicht, wenn ich eine gewaltige Schostakowitsch-Sinfonie höre oder irgendein großartiges Klavier-Konzert, was sich von Rachmaninow in irgendeine Apotheose schraubt, dass mich das emotional sehr mitnimmt. Das sind natürlich keine Trauer-, sondern eher Überwältigungs-Tränen. Im Theater war es, glaube ich, bei Pina Bausch?! Da passiert mir das sehr oft, dass ich da auf eine Weise erreicht werde, die mich emotional sehr mitnimmt.

Sie haben in einem Interview gesagt, mit etwas Überredungskunst und einem einzigartigen Programm kann man Persönlichkeiten nach Braunschweig holen. Wie beschreiben Sie Künstlern, die sie holen wollen, diese Stadt?

Kochheim: Das interessante und schöne ist, dass sie eigentlich gar nicht nach der Stadt fragen. Ich bin immer gerne bereit, irgendwelche großen Fakten über unser herrliches Staatstheater zu nennen. Aber dazu komme ich meistens gar nicht, weil es eigentlich immer um Stoffe und künstlerische Beziehung geht. Die Leute wollen wissen, was haben wir vor und wenn ich einem berühmten Regisseur eine Traviata anbiete, dann wird er sagen, nein, tut mir leid, habe ich schon drei Mal gemacht oder, wenn ich das mache, dann an der „Met“. Aber wenn ich mit einem unbekannten Stück, wie von Edgar Allan Poe oder mit der „Karenina“ komme, dann ist plötzlich sofort jemand neugierig. Das reicht dann eigentlich schon, um ein Interesse zu wecken. Dann laden wir die Leute ein. Die gucken sich das dann an. Sehen, dass man hier Theater auf einem hohen Niveau machen kann und so habe ich bisher tatsächlich jeden, den ich gewinnen wollte, gewinnen können.

Wäre es für sie trotzdem nicht leichter, mit ihrem Konzept in einer Stadt wie Berlin zu punkten?

Kochheim: Wie gesagt, die Frage entsteht gar nicht. Die Leute sind froh, wenn sie kommen und sehen, dass es ein tolles altes Haus ist. Eine Stadt mit einer schönen Altstadt. Dass man hier wunderbar shoppen kann. Das hier  rund um das Theater herum, zwischen „Haertle“und „Block-House“, für alle kulinarischen Bedürfnisse gsorgt ist. Aber in dem Moment, wo man sich künstlerisch verabredet, spielt das keine Rolle. Das finde ich sehr angenehm. Auch in Amerika, wobei es für die Amerikaner sowieso keinen großen Unterschied machen würde, ob es Bonn oder Braunschweig ist. Es ist ein deutsches Haus. Sie wissen, dass es ein subventioniertes Theatersystem ist, wo man auf ganz hohem Niveau auch an kleineren Häusern ganz hervorragendes Theater machen kann. Von daher ist eh gleich ein gewisser Good-Will da, auf dem ich aufbauen kann.

[image=8774 alignright]Im Sommer bringen Sie die „West Side Story“ open Air auf den Burgplatz. Dazu wird es mit Schülerinnen und Schülern die „West Stadt Story“ geben. Dürfen Sie hier tatsächlich frei inszenieren?

Kochheim: Weil hier unter uns sind: Die „West Side Story“ wurde bereits so oft gespielt, dass es gar nicht mehr kontrolliert wird. Das heißt, dass man bei der Produktion schon eine ganze Menge Freiheiten. Natürlich darf man nichts an der Musik verändern. Aber das will man auch gar icht, weil es eines der vollkommensten Werke des Musik-Theater ist. Da stimmt alles. Da muss ich nichts ändern oder besser wissen. Die „West Stadt Story“ is ja keine Inszenierung der „West Side Story“ auf dem Niveau von Braunschweiger Schülern mit Braunschweiger Begebenheiten, sondern ist ein pädagogisches Projekt, welches junge Leute mit diesem Stoff vertraut macht. Wir werden auch einzelne Szenen erarbeiten. Die aber sehr genau aus dem Stück nehmen. Wir werden sie zu Begegnungen verführen mit den Darstellern dieses Stückes, die zum Teil ja auch aus ihrer Wahrnehmungswelt kommen. Es ist eine Siegerin von „Popstars“ aus dem Fernsehen dabei. Es sind Darsteller aus der ganzen Welt, was diesen Kindern, die zum Teil Migrationshintergrund haben, eben auch entgegenkommt. Also, da geht es mehr darum, ihnen zu zeigen wie Theaterarbeit funktioniert. Was ein Stück, das wir aufführen, mit ihrer Lebenswelt zu tun hat, als dass wir eine kleine „West Side Story“ mit ihnen inszenieren würden.

Welcher „Popstar“ wird denn dabei sein?

Kochheim: Das ist Tertia Botha, die Leadsängerin der Band „Preluders“. Das war die erste Girl-Band, die nach den „No Angels“ aus so einem Format hervorgegangen ist.

Sie wollen in Braunschweig Theater-Schätze heben. Mit „Anna Karenina“ ist ihnen das gelungen. Welche weiteren Schätze schlummern denn noch hinter den Mauern des Staatstheaters?

Kochheim: Wir haben dafür eine offizielle Pressekonferenz, an die sehr geglaubt und gehalten wird. Ein Werk, das wir bereits benannt haben, weil es ein sehr spektakuläres Projekt ist, ist eine Tango-Oper von Astor Piazzolla. Sie heißt „Maria De Buenos Aires“. Da werden wir die Zuschauer selber auch auf die Bühne bitten. Das heißt, das Puplikum wird aus dem Saal auf die Bühne kommen und dort mit den Sängern, den Tänzern, den Schauspielern und den Musikern zusammen, also ganz nah Theater aus einer ganz anderen Perspektive erleben. Das ist ein Werk, welches für mich auch zu den Meisterwerken des 20. Jahrhunderts gehört, obwohl es eine merkwürdige Mischform ist, weil Sänger, Tänzer und Schauspieler dabei sind. Wir konnten dafür eine wunderbare Besetzung zusammenkriegen und von daher ist das genau auf einer Linie, den Leuten auch weniger bekannte Stücke in einer speziellen Ästhetik anzubieten.

Aber Mitmacht-Theater ist doch gar nicht Ihre Sache?!

Kochheim: Mitmachen muss man nicht. Man bleibt sicher. Ich hasse „Mitmach-Theater“. Ich bin der Erste, der sitzen bleibt. Aber das Publikum wird ganz nah dran sitzen. Bis auf wenige Zentimeter an diesen Menschen. Die Leute werden die Darsteller eben nicht, wie im Musik-Theater so häufig, durch einen Orchestergraben getrennt wahrnehmen. Sondern sie werden quasi Spritzer des Schweißes von Maria abbekommen. Sie werden das Atmen hören. Sie werden merken, welche körperliche Anstrengung auch dahinter steckt. Und sie werden vor allen Dingen, diesen kathedralenartigen, gewaltigen Raum der Bühne ganz anders erleben. Keiner ahnt ja, wie hoch dieser Raum über dem Ausschnitt ist, den man normalerweise sieht. Dass sich darüber eben einer weiterer Raum der gleichen Größe erhebt, in denen Kulissenteile hängen, die heruntergelassen werden. Der von eisernen Vorhängen eingegrenzt ist. Also, der Moment, man betritt einen offenen Raum und hinter einem schließt sich ein eiserner Vorhang. Das ist ja schon en ganz spezielles Raumerlebnis, was, glaube ich, zu einer gewissen Klaustrophobie beitragen wird und das Theater mal anders zeigt.



Philipp Kochheim


Operndirektor




[image=8769 alignleft]Philipp Kochheim wurde 1970 in Hamburg geboren und studierte Kunstgeschichte, Theaterwissenschaft und NDL in München. Nach seinem Magister war er vier Jahre lang Assistent von John Dew. 1997 schrieb er das Libretto zur Oper »Kniefall in Warschau«, die an der Dortmunder Oper uraufgeführt wurde. Seit 1998 inszeniert er Oper, Musical und Schauspiel u. a. an den Staatstheatern Darmstadt, Oldenburg, Kassel und Meiningen, am Nationaltheater Mannheim oder an der Bonner Oper. Viele seiner Inszenierungen erhielten Nominierungen als »Inszenierung des Jahres« in den Jahrbüchern der Zeitschrift Opernwelt. Von 2004 bis 2008 war er als Oberspielleiter der Oper am Staatstheater Darmstadt verpflichtet. Für seine Inszenierung von Wagners »Tannhäuser« wurde er 2004 mit dem Götz-Friedrich-Preis ausgezeichnet und für »Cosi fan tutte« mit dem Otto-Kasten-Preis des Deutschen Bühnenvereins. Seit März 2013 ist er als Operndirektor am Staatstheater Braunschweig engagiert und wird in dieser Spielzeit »Anna Karenina« und »West Side Story« inszenieren.

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