Gegen Polizeigesetz: "1984 ist nicht als Anleitung gedacht"

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Die Resolution lässt dystopische Gedanken aufkommen. Quelle: regionalHeute.de
Die Resolution lässt dystopische Gedanken aufkommen. Quelle: regionalHeute.de | Foto: regionalHeute.de

Braunschweig. In Niedersachsen ist die Verabschiedung eines umfassend novellierten niedersächsischen Polizeigesetzes geplant, das künftig den Namen „Niedersächsisches Polizei- und Ordnungsbehördengesetz“ - kurz „NPOG“ - tragen soll. Darüber wurde bereits viel diskutiert. Mit einer interfraktionellen Resolution wollen BIBS, Linke und die Fraktion P2 nun eine klare Stellung dazu beziehen.


Die Fraktionen halten nicht viel von dem vorliegenden Gesetzesentwurf. Sollte dieser Anwendung finden, könnten die darin enthaltenden neuen Regelungen schwerwiegende Eingriffe in die Bürger- und Menschenrechte legalisieren - so sind sich die Ratsmitglieder sicher.

Die Polizei erhielte damit deutlich mehr Befugnisse, Verdächtige zu definieren, überwachen und festzuhalten. Mit diesem Gesetz würde es zu einerbedenklichen Machtverschiebung innerhalb der Gewaltenteilung kommen.

Um die Umsetzung zu verhindern und den Rat der Stadt Braunschweig in Gänze für die Problematik zu sensibilisieren, stellten die Fraktionen einen entsprechenden Antrag. Dieser wird in der kommenden Ratssitzung am 6. November in die Diskussion genommen. Eine gemeinsame Resolution soll verhindern, Überwachungsstaat ähnliche Verhältnisse wie inGeorge Orwells Dystopie "1984" zu verhindern. Inhalt soll die geschlossene Ablehnung des Rates gegen das neue geplante "Niedersächsische Polizei- und Ordnungsbehördengesetz (NPOG)" sein.

Weiterhin wird der Oberbürgermeister gebeten, die Landesregierung über die Entscheidung des Rates im Anschluss zu informieren.

Massivster Eingriff seit 1945


Auf Bundesebene plane das Innenministerium derzeit ein "Musterpolizeigesetz", welches sich am bayrischen Polizeiaufgabengesetz orientieren soll. Also an einem Gesetz, das nach Einschätzung vieler Rechtswissenschaftler die "massivsten Grundrechtseingriffe seit 1945" ermöglichen würde.

Mit einer entsprechenden ablehnenden Resolutionwürde Braunschweig dem Beispiel anderer Bundesländer folgen, die gegen eine Verschärfung des Gesetzes sind. Aktuell würde sich auch der Landesvorsitz der SPD inNordrhein-Westfalen gegen ähnliche Gesetzesentwürfe stellen. In Bremenwurde eine weitere Beratung vorerst ausgesetzt, da die Grünennicht bereit waren, in einGesetzgebungsverfahren einzutreten. In Thüringen sei bereits angekündigt worden, die Gesetze nicht zu verschärfen (die SPD sieht dort kein Änderungsbedarf).

Die Kritiker des niedersächsischen Entwurfes monieren eine unverhältnismässige Einschränkung verfassungsrechtlich garantierter Menschenrechte zugunsten von Polizeibefugnissen und staatlicher Überwachung, so die Fraktionen. Die Polizei solle gesetzlich mit zahlreichen neuen Instrumenten ausgestattet werden, die schwerste Eingriffe in die Grundrechte der Betroffenen ermöglichen würden. Beispielsweise soll es der Polizei künftig möglich sein, präventiv Computersysteme mittels Spähsoftware zu infiltrieren, Elektroschocker gegen Menschen einzusetzen oder Menschen präventiv für bis zu 74 Tage in Gewahrsam zu nehmen.

Der Nutzen des neuen Gesetzes sei laut der Fraktionen fragwürdig:
"Befürworter behaupten, die vorgesehenen Gesetzesverschärfungen würden der Terrorabwehr dienen. Aber sind die geplanten Maßnahmen überhaupt dazu geeignet, für mehr Sicherheit zu sorgen? Und richten sich die Maßnahmen tatsächlich in erster Linie gegen Terroristen oder geraten künftig unbescholtene Menschen und politische Aktive vermehrt ins Visier der Polizeibehörden? Die Landesregierung bleibt den Menschen zahlreiche Antworten schuldig. Zahlreiche Demonstrationen, auch in Niedersachsen - unter anderem Hannover, Braunschweig - haben deutlich gemacht, dass es überall einen grossen Aussprachebedarf zu den Gesetzesentwürfen und ihren Auswirkungen gibt."

Als Universitäts- und Wissenschaftsstadt stehe Braunschweig für einen faktenbasierten, kritischen Geist sowie für unabhängiges und zukunftsorientiertes Denken. Braunschweig habe, schon aufgrund seiner Geschichte, eine Pflicht und Tradition zum politischen Protest. Das geplante NPOG und seine Konsequenzen würden daher Braunschweig somit in besonderer Weise treffen, da sind sich die Fraktionen einig.

Daher halten die Antragsteller es für notwendig, der Kritik eine gewichtige Stimme zu verleihen, um die geplanten Einschränkungen der Grundrechte zu verhindern. Weiterhin geben sie an: "Namhafte, anerkannte Organisationen wie zum Beispiel die Fachgruppe der Richter und Staatsanwälte im ver.di-Landesverband Nds./HB haben auf die Unverhältnismäßigkeit dieses Gesetzesentwurfes hingewiesen. Auch die Landesdatenschutzbeauftragte Barbara Thiel hat derartige Probleme in einer Stellungnahme ausführlich benannt."

Auszug aus dem NPOG


Die Fraktionen haben in ihrem Antrag folgende Beispiele aufgeführt:
Die zulässigen Anwendungsfälle zum Einsatz der elektronischen Fußfessel werden ausgeweitet, die in diesem Zusammenhang erfassten sehr sensiblen Daten des „Gefesselten“ werden nicht mehr als besonders sicherungswürdig bewertet. (§ 17c Abs. 1 und 3)

Erleichterung der Bedingungen, unter denen eine Telekommunikations-Überwachung (Abhören von Telefon, Abfangen von E-Mails, Mitlauschen und -lesen von Chats und Messenger-Nachrichten) zulässig sein soll. (§ 33a Abs. 1)

Erleichterungen der Bedingungen, unter denen der große Lauschangriff auf Wohnungen (Abhören mittels Wanzen & Co.) zulässig sein soll. (§ 35a Abs. 1)

Die Videoüberwachung von Gefangenen wird nicht nur eingeführt, sondern deren Begründungskatalog inhaltlich wesentlich erweitert (§ 20 Abs. 4) – persönlichkeitsrechtlich höchst fragwürdig.

Deutliche Reduzierung der Bedingungen, unter denen die Polizei Aufzeichnungen privat oder gewerblich betriebener Videoüberwachungskameras die Herausgabe dieser Daten erzwingen kann. (§ 32a Abs. 1)

Einfügung der neuen Erlaubnis für die Polizei, V-Leute im Einzelfall sogar ohne (vorherige) richterliche Genehmigung einsetzen zu dürfen. (§ 36a Abs. 4)

Es soll zukünftig nicht (mehr) festgehalten werden, ob Rasterfahndungen zu einem Ergebnis geführt haben oder nicht. (§ 48 Abs. 1)

Einfügung einer Ausschlussklausel, nach der der Einsatz von verdeckt, also heimlich agierenden Polizeibeamten unter bestimmten, möglicherweise dehnbaren Bedingungen nicht mehr durch einen Richter genehmigt werden muss. (§ 36 Abs. 2)

Der Einsatz von Tasern (Elektroschocker-Pistolen bzw. im euphemistischen Behördendeutsch als „Elektroimpulsgerät“ bezeichnet) werden nicht nur ausdrücklich erlaubt, Taser sollen sogar durch eine Neuordnung der Reihenfolge polizeilicher Waffen als erstes einzusetzendes Mittel noch vor dem Schlagstock definiert werden. (§ 69 Abs.4)

Der Zeitraum richterlich begründeter Untersuchungshaft für unbestimmte Fälle wird von vier auf sechs Tage erhöht. (§ 21)

Streichung der sinnvollen Klausel, wonach Menschen, die bereits bekundet haben, aus einer kriminellen Szene aussteigen zu wollen und ein entsprechendes Ausstiegs-Angebot der Behörden angenommen haben, grundsätzlich nicht mehr als V-Leute angeworben oder eingesetzt werden dürfen. (§ 36 Abs. 5)

Gänzliche Streichung von Regularien und Bedingungen, die zur „Führung“ von verdeckten Ermittlern (weiterhin Polizeispitzel genannt) angedacht gewesen sind. (§36 Abs. 6)

Ebenso vollständige Streichung der Vorgabe, dass Polizeispitzel, die im Verdacht stehen, im Zuge ihrer Spitzeltätigkeit eine „Straftat von erheblicher Bedeutung“ begangen zu haben, nicht weiter als Spitzel eingesetzt („in Anspruch genommen“) werden dürfen. (§ 36 Abs. 7)


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