Braunschweig. Der Kulturraum zwischen Harz und Heide besitzt als Wiege der jüdischen Modernisierung und des Reformjudentums ein Erbe von besonderer Qualität. Das liberale Judentum ist die weltweit größte jüdische Strömung der Gegenwart. Diese Bedeutung ist in Deutschland bislang nahezu unbekannt. In einer wissenschaftlich fundierten Potenzialanalyse hat die Arbeitsgemeinschaft Europäisches Tourismus Institut & Ostfalia Hochschule gemeinsam mit den Experten des Israel Jacobson Netzwerkes aufgezeigt, inwieweit dieses wertvolle jüdische Erbe sichtbar und für Einheimische und Touristen, für Juden wie Nichtjuden zugänglich gemacht werden kann. Dies teilt der Verein Israel Jacobson Netzwerk für jüdische Kultur und Geschichte in einer Pressemitteilung mit.
Prof. Dr. Heinz-Dieter Quack, der Leiter der Studie, betont: „Die Region besitzt als Ursprungsland der jüdischen Modernisierung ein einzigartiges Alleinstellungsmerkmal. Über die vielen authentischen jüdischen Orte, Objekte und Persönlichkeiten aus über 1.000 Jahren gemeinsamer Geschichte besteht das Potenzial, ein weltweit einzigartiges, kulturtouristisches Produkt zu schaffen. Neben tollen Orten und Landschaften bietet sich hier die Möglichkeit, die heute so wichtigen Werte wie das Streben nach Gleichberechtigung, Toleranz und religiösem Frieden anschaulich zu machen. Dies stärkt die touristische Attraktivität der gesamten Region nachhaltig.“
„Die Region ist äußerst interessant für unsere jüdischen wie nichtjüdischen Kunden aus aller Welt. Sie ist die Wiege der religiös-kulturellen Prägung von Millionen Juden“, so Noa Lerner, Inhaberin von Milk & Honey Discover Jewish Europe, dem Marktführer für jüdisches Reisen in Deutschland und Europa. „Bereits in der Vergangenheit hatten wir Anfragen aus den USA und Israel nach den hiesigen Stätten der jüdischen Reform. Wir konnten sie aber aufgrund fehlender Angebote vor Ort nicht erfüllen. Wir rechnen nach Corona zusätzlich mit einer verstärkten Orientierung zu Reisezielen außerhalb der großen Städte. Hier gibt es Neues zu entdecken aber auch ein wichtiges Gefühl persönlicher Sicherheit.“
Jüdische Orte touristisch nicht erschlossen
Viele der jüdischen Orte seien derzeit touristisch nicht erschlossen. Eine große Herausforderung, für die in der Studie eine innovative Lösung gefunden wurde. Hierzu Prof. Quack: „Wir empfehlen eine kombinierte Strategie aus Digitaltechnologien und historischen Originalen. So kann zum Beispiel durch die visuellen Möglichkeiten der sogenannten Extended Reality Verlorengegangenes auf verblüffende Weise wieder dargestellt und über Storytellingansätze neu erzählt werden.“ Dr. Jörg Munzel, Vorstand des Israel Jacobson Netzwerks, ergänzt: „Diese neue Form der kulturtouristischen lnwertsetzung und Inszenierung ist doppelt intelligent. Sie ist hochattraktiv, insbesondere für jüngere Zielgruppen, die ohne digitale Angebote nicht mehr erreicht werden können, und zudem gegenüber baulichen Maßnahmen viel preiswerter. Auf diese Weise verbinden wir die beiden großen Narrative der Region Braunschweig-Wolfsburg, die der Technologieregion und die der Kulturregion.“
Die Studie weise aus, dass sich durch die Modernisierung der Angebote zahlreiche monetäre wie nicht-monetäre Effekte für die Region ergeben. Dazu Prof. Quack: „Durch Investitionen in ausgewählte Orte und die touristische Infrastruktur können konservativ gerechnet regionalwirtschaftliche Effekte in Höhe von bis zu 8,1 Millionen Euro Bruttoumsatz pro Jahr erzielt werden. Mit weiteren Marketinginvestitionen besteht die Möglichkeit, dieses Potenzial auf 15,7 Millionen Euro nahezu zu verdoppeln. Neben den wirtschaftlichen Effekten ist aber vor allem die Stärkung der weichen Standortfaktoren wie Regionalimage und kulturelle Identität von besonderer Bedeutung.“ Aufgrund der positiven Entwicklungen des Inlandstourismus sei davon auszugehen, dass durch überregionales Marketing die Ankunfts- und Übernachtungszahlen deutlich gesteigert werden können, sodass die gesamte Tourismuswirtschaft in der Region profitiere.
50 Orte schon jetzt zu entdecken
Interessierte Besucher und Tagesausflügler müssten aber nicht erst auf zukünftige Entwicklungen warten, sondern könnten durch neue Angebote des Israel Jacobson Netzwerkes sofort loslegen. Dr. Munzel ergänzt: „Über 50 jüdische Orte von geschichtlicher Bedeutung sind jetzt schon in der Region zu entdecken. Das Israel Jacobson Netzwerke hat eine kostenlose Bildkarte neu aufgelegt sowie online und interaktiv auf der IJN-Homepage platziert. Dort finden sich weitergehende Informationen, eine Bestellmöglichkeit sowie einen integrierten Routenplaner.“ Zudem existiere ein kulturtouristischer MERIANGuide des IJN.
Renate Wagner-Redding, die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Braunschweig betone einen wichtigen übergeordneten Aspekt: „Über das Projekt bekommt man eine neue Perspektive auf deutschjüdisches Leben, indem es die Orte und Personen wie Israel Jacobson oder Leopold Zunz, welche die deutsche Judenheit vor der Shoa prägten, wieder bekannt macht. Das schafft den heute in Deutschland lebenden Juden, die zu einem überwiegenden Anteil aus den GUS-Ländern eingewandert sind, einen positiven Identifikationsort. Das Vorhaben gibt Juden wie Nichtjuden Verständnis für die Vielfalt der gesamten fast 1.700-jährigen gemeinsamen Geschichte.“ Besonders vor dem Hintergrund des erneut aufflammenden Antisemitismus seien die Werte des modernen Judentums und Israel Jacobsons von enormer Bedeutung und heute relevanter denn je. Frau Wagner-Redding schließt: „Das Projekt rechnet sich doppelt: Als touristische Regionalentwicklung wie als Vermittlung jüdischer Geschichte für Gegenwart und Zukunft.“
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