Braunschweig. Ob ein Livestream über den Dächern des Quartiers, die kleinste Tanzfläche der Stadt, eine dezentrale Ausstellung von 150 Jahren Kiez oder auch Tetris auf einer Hochhaus-Fassade: Gemeinsam mit Unternehmen aus dem Viertel sind im Braunschweiger Kultviertel im Corona-Jahr zahlreiche neue Projekte entstanden – die gänzlich neue Anknüpfungspunkte für Stadtentwicklung und Quartiersmarketing boten.
Viele individuelle Einzelhändler, Kreativagenturen, Ärzte, Rechtsanwälte, Restaurants, Bars und Diskotheken sowie dazwischen die Prostitutionsstraße Braunschweigs: Im Friedrich-Wilhelm- Viertel am Rande der Braunschweiger Innenstadt – kurz im Kultviertel – treffen auf wenigen Straßenzügen unterschiedlichste Branchen aufeinander. Über die Jahre haben die Engagierten im Kultviertel-Verein, in dem mehr als 50 Unternehmen, Ladenbetreiber, Gastronomen, Agenturen, Anwohner sowie auch Immobilieneigentümer zusammenkommen, ehrenamtlich eigene Formate wie die „Quartiersforen“ oder die einmal im Jahr stattfindende „Kultviertelnacht“ etabliert. Doch der Beginn der Corona-Pandemie im März stieß sämtliche Pläne um.
„All unsere Aktivitäten, Projekte und Veranstaltungen sind Produkte des ehrenamtlichen Einsatzes der vielen Akteure aus dem Viertel. Uns ist es wichtig, dass die Vorhaben ‚aus dem Kiez heraus‘ entstehen – schrittweise entwickeln sie sich so generisch weiter“, erklärt Falk-Martin Drescher, Vorstandsvorsitzender der Quartiersinitiative. „Und als wir dann im März vor dem ersten Lockdown standen, haben wir uns gefragt: Wie können wir die Aufmerksamkeit auf besonders betroffene Branchen wie den Einzelhandel, die Gastronomie, die Prostitution und auch Clubszene lenken und gleichwohl etwas Schützenhilfe leisten?“
Mutig sein und verrückte Ideen zulassen
Babak Khosrawi-Rad – Geschäftsführer der Kommunikationsagentur eventives GmbH, die sich ebenfalls stark im Kiez engagiert – sind im März auf einen Schlag zahlreiche Projekte rund um geplante Veranstaltungen weggebrochen. „Für uns war sofort klar: Wir können nicht still stehen – wir möchten uns engagieren und die Krise nutzen um etwas Neues auszuprobieren und dazu zu lernen.“ Zufällig entstand dabei die Idee, mit einem Livestream vom soldekk, einer Gastronomie auf dem obersten Deck eines Parkhauses im Kultviertel den Nachtschwärmern mit DJ-Sets und Band-Liveauftritten etwas Unterhaltung in die Wohnzimmer zu bringen. Nachdem „The Roof Is On“ zunächst wöchentlich ausgestrahlt wurde, konnte dank der Unterstützung der Braunschweigischen Landessparkasse (BLSK) schließlich allmonatlich bis in den September gesendet werden.
Die BLSK selbst ist im Herzen vom Kiez, im Alten Bahnhof und benachbarten Hochhaus, zu Hause. „Ideen wie der Roof-Livestream entstehen nicht, weil man bei einer Agentur neue Marketingkonzepte in Auftrag gibt. Letztendlich zählt hier aus unserer Sicht das offene Ohr: Uns ist es wichtig hinzuhören, welche Ideen im Mitarbeiterumfeld und im Kreise unserer Partner entstehen“, skizziert Christoph Schulz, Vorstandsvorsitzender der BLSK und Vorstandsmitglied der NORD/LB. „Und dann muss man einfach mal mutig sein und verrückte Ideen zulassen.“ Mit Erfolg: Zahlreiche DJs und Bands gastierten auf der Bühne des Livestreams – das Format selbst wurde insgesamt hunderttausende Male abgerufen.
Stadtkultur aktiv mitgestalten
Große Aufmerksamkeit galt in diesem Zusammenhang auch den sogenannten „Rooftop Games“, bei denen über anderthalb Wochen lang jeden Tag Interessierte vom soldekk aus auf der Hochhaus-Fassade der Braunschweigischen Landessparkasse die Spieleklassiker Tetris und Snake ausprobieren konnten. Und zwar: auf mehr als 800 Quadratmetern Bild- und Spielfläche, über 11 Fenster Breite, mit 165 Pixeln in Form von 165 Lampen. Vorstandsvorsitzender Schulz dazu: „Viele haben die Sommerferien in der eigenen Stadt verbracht. Da haben wir uns gedacht: Wir bieten den Menschen der Region mit den ‚Rooftop Games‘ ein außergewöhnliches Erlebnis inmitten des Kultviertels.“ Die beiden Unterhaltungsklassiker wurden für das Vorhaben eigens umprogrammiert – gespielt wurde an einem alten Nintendo-Controller, rund 200 Meter von der eigentlichen Spielfläche entfernt. Die größte Spielefläche der Stadt: eine echte organisatorische Herausforderung. Aber, so eventives-Chef Khosrawi-Rad: „Ein großer Erfolg, der uns bundesweite Aufmerksamkeit verschafft hat.“
Zahlreiche Initiativen setzen sich für die Prostituierten in der Bruchstraße ein, so etwa auch der neue Verein Cheer’s Kitchen. Foto: Michael Wallmüller
Das galt auch für die „Pop Up Disko“, die im Sommer für einige Wochen auf dem Friedrich- Wilhelm-Platz installiert wurde. So entwickelte sich eine frühere Telefonzelle zu Braunschweigs kleinster Tanzfläche, in der Begeisterte für die Dauer eines selbst ausgewählten Songs unter Einhaltung der Corona-Auflagen ein wenig Club-Stimmung genießen konnten. „Für Feierfreudige jeden Alters ist die Partykultur ein ganz wesentlicher Teil der Freizeitgestaltung. Was in diesem Jahr eigentlich unmöglich war, machten wir mit der Pop Up Disko zumindest für einige Wochen möglich“, freut sich Knud Maywald, Vorsitzender des Vorstandes der Öffentlichen Versicherung Braunschweig, die das Projekt ermöglichte. Die Öffentliche arbeitet seit Jahren mit Akteuren wie dem Kultviertel-Verein zusammen und unterstützt dabei ganz wesentlich Veranstaltungen wie die „Kultviertelnacht“ oder initiierte im Kiez Projekte wie das „Pop Up Village“. Auch das BLUEworking, der Coworking Space der Öffentlichen, ist seit über einem Jahr Teil des Viertels. „Mit unseren Engagements wollen wir die hiesige Kultur- und Kreativszene nicht nur fördern, sondern vor allem auch selbst aktiv mitgestalten. Für uns ist das gelebte Stadtkultur“, so Maywald.
Initiativen für Prostituierte im Kiez
Unterstützung der besonders betroffenen Branchen – das galt in diesem Jahr ferner für die Prostituierten der Bruchstraße im Kiez, seines Zeichens eine der ältesten Prostitutions-Straßen Deutschlands. Kultviertel-Vorstandsvorsitzender Drescher schildert: „Mit Beginn der Pandemie wurde ad hoc über viele Branchen und gefährdete Akteure gesprochen, nur wenig aber über die Prostituierten, die kaum von Förderprogrammen oder anderen Initiativen aufgefangen werden.“ In Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt der Stadt Braunschweig, dem Schrill-Verein, dem Bündnis „Eintracht hilft“ sowie Cheer’s Kitchen konnten unterschiedliche Vorhaben zur Unterstützung für die Frauen in der Bruchstraße realisiert werden – so etwa eine Versorgung mit Lebensmitteln und Hygieneprodukten oder auch Spendengelder, mit denen Arztrechnungen nicht krankenversicherter Frauen übernommen werden konnten. Marion Thomsen, selbst Kommunikations-Mitarbeiterin der Braunschweigischen Landessparkasse, initiierte gar eine Handtaschen-Aktion, bei der mehr als 70 Taschen – bestückt mit Hygieneprodukten und kleinen Aufmerksamkeiten – gesammelt und schließlich verteilt wurden.
The Roof Is On: Über die gesamte Sommersaison sendete „The Roof Is On“ mit DJ- und Bandauftritten vom soldekk – Braunschweigs Dachstrand-Bar über den Dächern der Stadt. Foto: Leevke Draack
Abgerundet hat das Kultviertel das Corona-Jahr derweil mit einer „Kultviertelnacht Sonderedition“, bei der ein Projection Mapping mit dem Motto „The Kiez is alive“ auf der Villa von Amsberg für visuelle Unterhaltung sorgte und eine dezentrale Ausstellung von rund 100 Motiven aus 150 Jahren Kiez auf den Schaufenstern der Läden im Viertel mit spannenden Zeitreisen beeindruckte. „Die alten Fotografien kamen so gut an, dass wir elf Motive in Zusammenarbeit mit der BLSK und eventives als Postkarten-Sonderedition auflegten und über die hiesigen Geschäfte zugänglich machen“, ist Drescher glücklich.
Farbe bekennen: „Das ist unser Kiez“
Die Streaming-Saison fand indes kürzlich mit „ROCK AROUND – a christmas stream“ ihren Abschluss, als live aus der The Deans Bar mit Band- und DJ-Aufritten sowie Mitmachaktionen vor allem Studierende, anstatt ihrer beliebten Erstsemesterpartys, eine Plattform zum Austausch fanden. Khosrawi-Rad, der sich seit vielen Jahren auch persönlich im Kultviertel engagiert, erläutert: „Es ist schön zu sehen, wie die Stadtteilarbeit mit kreativen Köpfen selbst unter den schwierigsten Voraussetzungen neu und anders gedacht werden konnte. Es war ein großartiges Jahr – trotz aller Widrigkeiten.“ Projekte, die aufzeigen würden, wie wichtig die Vernetzung innerhalb eines Quartiers ist – sowie das ehrenamtliche Engagement unterschiedlichster Akteure. „Wir sind unendlich froh, dass über die Jahre immer mehr Unternehmen aus dem Viertel bewusst Farbe bekennen, und sagen: Das ist unser Kiez, wir sind Teil davon und gestalten ihn aktiv mit“, resümiert Kultviertel-Vorsitzender Drescher.
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