Braunschweig. Der Weltraum birgt eine Vielzahl faszinierender Objekte, die wir nur erforschen können, indem wir ihre Strahlung - auch jenseits des sichtbaren Bereichs - beobachten. Für Weltraumteleskope wie das Infrarot-Observatorium Herschel der Europäischen Raumfahrtorganisation ESA, die Strahlung im fernen Infrarot beobachten sollen, ist die Kühlung der Instrumente unerlässlich.
Denn die Instrumente selbst dürfen keine störende Infrarotstrahlung emittieren. Die Spiegel dieser Teleskope, die bei Temperaturen unterhalb von -190°C zum Einsatz kommen, werden aus speziellen ultrastabilen Keramiken wie etwa Siliziumkarbid hergestellt. Um die exakten Abmessungen auch bei diesen niedrigen Einsatztemperaturen richtig zu planen, ist es erforderlich, die thermische Ausdehnung der verwendeten Materialien sehr genau zu kennen. In einem kürzlich abgeschlossenen ESA-Projekt hat die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig die thermische Ausdehnung dieser Keramiken sowie von einkristallinem Silizium im Temperaturbereich von -266°C bis 20°C mit hoher Genauigkeit gemessen. In weiten Teilen des untersuchten Temperaturbereichs entspricht die erreichte Genauigkeit einer relativen Längenänderung von etwa einem Milliardstel pro Grad Celsius. Die Untersuchungen zeigen auch, dass die bisher verwendeten Werte für das Referenzmaterial einkristallines Silizium korrigiert werden müssen. Über Letzteres wird in der aktuellen Ausgabe der renommierten Fachzeitschrift Physical Review B berichtet.
Weltraumteleskope wie Herschel erforschen Spektralbereiche, die von der Erde aus nicht zugänglich sind. Als Einsatzort bleibt damit nur der Weltraum. Wie entscheidend es für den Bau solcher Teleskope ist, das thermische Ausdehnungsverhalten der verwendeten Materialien genau zu kennen, wurde bei einer der jüngeren ESA-Missionen deutlich, als die vorab durchgeführten Simulationen letztlich nicht mit den gefertigten Spiegeln übereinstimmten. Zwar wurden die Unstimmigkeiten nicht erst im Weltraum entdeckt, aber sie führten doch zu unnötigen Verzögerungen. Um derartige Überraschungen zukünftig vermeiden zu können, waren genauere Untersuchungen der verwendeten Materialien erforderlich. Für ihre Untersuchungen im Rahmen des ESA-Projektes setzte die Gruppe von René Schödel das Ultrapräzisionsinterferometer der PTB ein. Damit maßen sie die Länge der Proben im gesamten Temperaturbereich mit Nanometer-Genauigkeit. Dieses Interferometer ist weltweit einzigartig. Um Messungen mit ähnlicher Genauigkeit auch in anderen Instituten und mit weniger Aufwand durchführen zu können, werden üblicherweise Referenzmaterialien mit genau bekannter thermischer Ausdehnung als Vergleich herangezogen. Ein solches Referenzmaterial, einkristallines Silizium, das sich durch eine durchgehende Gitterstruktur mit sehr wenigen Störstellen auszeichnet, haben die Wissenschaftler in dem Projekt ebenfalls untersucht. Wie einige der ultrastabilen Keramikmaterialien auch, hat Silizium die kuriose Eigenschaft, dass es sich hin zu tiefen Temperaturen ab einer gewissen Temperatur wieder auszudehnen beginnt. Auch diese – im Alltag unerwartete – Dynamik haben die PTB-Wissenschaftler genau vermessen. Ein wichtiges Ergebnis ihrer Messungen: Sie fanden in einem weiten Temperaturbereich signifikante Abweichungen von den bisher für einkristallines Silizium verwendeten Referenzwerten. Dies deutet darauf hin, dass die Referenzwerte korrigiert werden müssen.
Die Ergebnisse des Projekts sind von Bedeutung für weitere, bereits geplante Weltraummissionen wie das James Webb Weltraumteleskop (JWST), für das Einsatztemperaturen unterhalb von -220°C geplant sind, oder das Infrarot-Weltraumteleskop für Kosmologie und Astrophysik (SPICA), bei dem sogar noch niedrigere Einsatztemperaturen angedacht sind.
Die wissenschaftliche Veröffentlichung
Thomas Middelmann, Alexander Walkov, Guido Bartl, René Schödel: Thermal expansion coefficient of single-crystal silicon from 7 K to 293 K. Phys. Rev. B 92, 174113 (2015)
mehr News aus Braunschweig