Tausende von deutschen Ärzten und Pflegern arbeiten in Schweden. Und es werden immer mehr. Das schwedische Gesundheitssystem gilt als Vorzeige-Modell, die Arbeitsbedingungen sind attraktiv, die Bezahlung auch. Heißt es. Und in Deutschland stöhnen alle: steigenden Versicherungsbeiträge, immer weniger Leistungen. Was können wir von den Schweden lernen? FOCUS Online hat mit einem deutschen Arzt an Schwedens ältester Uni-Klinik in Uppsala gesprochen.
von FOCUS-Online-Autor Ralph Grosse-Bley
„Bist du jetzt vollkommen verrückt geworden?“ Dr. Rainer Dörenberg (58) erinnert sich noch genau an die Reaktion seiner Frau, als er sich vor 18 Jahren an der Uni-Klinik im schwedischen Uppsala bewarb.
„Die Uni Uppsala und Schweden brauchen Sie!“
Damals, 2000, gab es zu viele Ärzte in Deutschland, erinnert sich Dr. Dörenberg. Beim Versuch, seine Karriere voranzutreiben, fand der Anästhesist keine geeignete Stelle in Deutschland – und stieß auf das Jobangebot der Uni-Klinik Uppsala. „Nach meiner Bewerbung dauerte es nicht lange und der Chef der Klinik rief an. Er sagte: `Die Uni Uppsala und Schweden brauchen Sie!´“ Das beeindruckt den Arzt noch heute: „Niemals hatte ich in Deutschland eine ähnliche Reaktion auf eine Bewerbung erfahren.“
So riskierte Dr. Dörenberg damals mit seiner Frau und zwei Kindern (damals 10 und 12) das Abenteuer Schweden. Und die Karriere, von der er träumte, die hat er gemacht. Dr. Dörenberg ist heute Sektionschef für Kinder-Anästhesiologie, -Operationen und -Intensivmedizin. Er hat einen schwedischen Pass, ein Haus in einem Vorort von Uppsala (rund 300.000 Einwohner) und ein Hobby, das in Schweden nicht so verbreitet ist wie in Deutschland: arbeiten, ackern. „Ich bin ein Workaholic“, sagt Dr. Dörenberg, „das ist in Schweden eigentlich nicht so gefragt.“
Aber das schwedische Gesundheitssystem wird weltweit gelobt: gleicher, kostenloser Zugang zur Medizin für alle. Keine Zwei-Klassen-Gesellschaft (gesetzlich und privat Versicherte) wie bei uns, Keine ständig steigenden Beiträge.
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Die Schweden gehören zu den gesündesten Menschen der Welt
Was also genau können wir Deutsche von den Schweden in punkto Gesundheitswesen lernen?
Der Deutsche Dr. Rainer Dörenberg lebt seit 18 Jahren in Schweden. Foto: Dr. Dörenberg
Schweden hat Top-Ärzte, Top-Kliniken, sagt Dr. Dörenberg, die Schweden gehören zu den gesündesten Menschen der Welt. Und die Lebenserwartung ist höher als in Deutschland. Der große Nachteil des schwedischen Gesundheits-Modells: „Die Zugänglichkeit ist eine Katastrophe!“ Heißt: Wer krank ist und zu einem Arzt will, braucht Geduld. Viel Geduld.
Dr. Dörenberg: „Zunächst musst du bei einer Art Hotline anrufen. Da wird dir erstmal gesagt, dass du keinen Arzt brauchst.“ Wenn doch, dauert es bis zum Termin beim Hausarzt locker sechs Wochen. Ist z.B. Röntgen nötig, vergehen noch einmal Monate. Auch auf Operation müssen selbst ernsthaft kranke Menschen oft mehrere Monate warten. Das kann dramatische Folgen haben, wenn es etwa um Krebs geht. „Die Wartezeiten sind der Wahnsinn“, sagt Dr. Dörenberg, und: „Wenn ich mal eine Operation brauche, gehe ich nach Deutschland.“
Attraktiv ist das schwedische Gesundheitssystem für Ärzte und Pflegepersonal. Die Bezahlung ist kaum anders als in Deutschland, aber der Stress ist einfach viel geringer, sagt Dr. Dörenberg. Er nennt ein paar Zahlen, die das deutlich machen: Eine Stuttgarter Klinik, an der Dr. Dörenberg 2015 mal für sechs Monate arbeitete, hat 2200 Betten und 7000 Mitarbeiter – „hier in Uppsala sind es bei 1000 Betten 8200 Mitarbeiter“. Das ist schön für die Patienten und das Personal. Und wäre in Deutschland schlicht unfinanzierbar.
Vier Wochen steht Schweden still
„Die Arbeitsbedingungen in Schweden sind einfach ganz anders. Man hat deutlich mehr frei – und gesetzlichen Anspruch auf vier Wochen Ferien am Stück zwischen Juni und August.“ Dann steht Schweden praktisch still, auch die Kliniken. So kommt es, dass bis zu einer Hüft-OP gern einmal anderthalb Jahre vergehen. Das nervt einen deutschen Workaholic wie Dr. Dörenberg, dessen familiäre Wurzeln am Rande der Eifel im Raum Aachen liegen. „Ich habe jahrelang versucht, etwas daran zu ändern, dass Kranke so lange warten müssen. Ich habe es nicht geschafft.“
Liegt das vielleicht auch ein Stück weit an den flachen Hierarchien, die es selbst in den Kliniken gibt? Dr. Dörenberg nickt. Seine Diagnose: Der Anspruch, alle Mitarbeiter an Entscheidungsprozessen zu beteiligen, ist gut fürs Betriebsklima, dieses Wir-Gefühl. Einerseits. Andererseits ist es mit dem Reden wie mit den Medikamenten: Die Dosis macht’s. Dr. Dörenberg trägt es heute mit Humor: „Du hast Besprechungen ohne Ende und meistens kommt nichts dabei raus.“
Damit hat sich Dr. Dörenberg längst arrangiert. Auch damit, dass 55 Prozent seines Gehaltes („Ich verdiene gut“) an Vater Staat gehen. Bis 65 wird er an der Uniklinik bleiben, vielleicht sogar bis 67, das darf er selbst entscheiden.
„Wir müssen einen Mittelweg finden“
Die Schweden geben mehr aus für ihr Gesundheits-System als die Deutschen, das Personal hat weniger Stress, mehr frei, Spät- und Nachtdienste werden viel besser bezahlt, die Kliniken sind top ausgestattet. Ist es das, was wir Deutsche lernen könnten? „Wir müssen einen Mittelweg finden“, sagt Dr. Dörenberg. „Die Deutschen sind effizienter beim Einsatz ihrer Gelder, aber der Stress für alle ist viel höher als in Schweden.“
Was wir auch lernen können ist: ein rein steuerfinanziertes Gesundheitssystem ist allein noch kein Rezept. Nicht, wenn alle ewig warten müssen. Sondern nur, wenn allen schnell geholfen wird.
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