Gericht entscheidet: Keine Zwangs-OP für hörbehindertes Kind


Das Amtsgericht hat entschieden: Aufgabe des Wächteramtes des Staates sei es nicht, gegen den Willen der Eltern für eine bestmögliche Förderung der Fähigkeiten des Kindes zu sorgen. Foto: Anke Donner
Das Amtsgericht hat entschieden: Aufgabe des Wächteramtes des Staates sei es nicht, gegen den Willen der Eltern für eine bestmögliche Förderung der Fähigkeiten des Kindes zu sorgen. Foto: Anke Donner | Foto: Anke Donner

Goslar. Mit Beschluss vom 28. Januar hat das Amtsgericht Goslar von familienrechtlichen Maßnahmen gegen hörbehinderte Eltern abgesehen, die ihr ebenfalls hörbehindertes Kind keiner Cochlea-Implantation unterziehen wollen. Das teilt das Amtsgericht in einer Pressemitteilung mit.


Das Sorgerechtsverfahren wurde auf eine Mitteilung des Jugendamtes Goslar eingeleitet, das wegen der Verweigerung der Cochlea-Implantation eine erhebliche nachhaltige und schwerwiegende Schädigung des Kindes insbesondere im sozialen und späteren beruflichen Leben fürchtete. Die Kindeseltern sind hingegen der Auffassung, das Operationsrisiko bei der Narkose und die Gefahr möglicher Hirn- und Nervenschädigungen seien zu hoch, während es ungewiss sei, ob sich das Sprach- und Hörvermögen ihres Kindes wesentlich verbessern werde.

"Das Kindeswohl ist nicht gefährdet"


Das Amtsgericht sah keine ausreichenden Gründe für familiengerichtliche Maßnahmen, da das Kindeswohl nicht gefährdet sei. Aufgabe des Wächteramtes des Staates sei es nicht, gegen den Willen der Eltern für eine bestmögliche Förderung der Fähigkeiten des Kindes zu sorgen und dafür Sorge zu tragen, dass eine Cochlea-Implantation zur Herstellung der Hör- und Sprachfähigkeit vorgenommen werde. Vielmehr weise Artikel 6 Absatz 2 des Grundgesetzes den Eltern die primäre Entscheidungszuständigkeit bezüglich der Förderung ihrer Kinder zu. Dabei werde auch in Kauf genommen, dass Kinder durch die Entscheidung der Eltern wirkliche oder vermeintliche Nachteile erlitten.

Ein Eingriff in dieses Grundrecht, insbesondere durch Entzug der Gesundheitsfürsorge und des Aufenthaltbestimmungsrechts, sei daher nur zulässig, wenn die elterliche Entscheidung schwerwiegende Nachteile für das Kind befürchten lasse. Auch müsse der Eingriff geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sein. Diese Voraussetzungen hat das Gericht verneint. Dabei hat es die Frage, ob bereits angesichts der Operationsrisiken ein Eingriff in das elterliche Sorgerecht ausscheide, dahinstehen lassen. Jedenfalls sei die sich an die Operation anschließende erforderliche Lautsprachentherapie nicht durchführbar. Die Implantation könne daher nicht den gewünschten Erfolg erzielen.

Nach den Ausführungen der Sachverständigen sei es für den Therapieerfolg erforderlich, dass das Kind auch am Nachmittag nach dem Kindergartenaufenthalt die Lautsprache lerne. Dass die Eltern selbst keine Lautsprache anbieten könnten, könnte nach den Ausführungen des Sachverständigen durch Kontakt mit Nachbarsfamilien mit sprechenden Kindern, Freunden und Bekannten oder auch durch staatliche Begleitpersonen ausgeglichen werden. Nach Auffassung des Gerichts führte dies aber zu längerer täglicher Trennung des Kindes von den Eltern, sofern die Therapie außerhalb des elterlichen Haushalts erfolge. Finde die Therapie im elterlichen Haushalt statt, könnte die Familie kein ungestörtes Familienleben mehr führen.

Kind soll nicht in Loyalitätskonflikt geraten


Entscheidend sei, ob die Eltern diese Folgen und damit die Therapie ablehnten oder mittrügen. Die Eltern akzeptierten jedoch ein Cochlea-Implantat nicht. Diese ablehnende Haltung könnte das Kind emotional spüren und in einen erheblichen das Kindeswohl gefährdenden Loyalitätskonflikt geraten. Die Abwägung der Eltern gegen ein Cochlea-Implantat und für ein Hörgerät beruhe nicht auf Unwissenheit der Eltern. Vielmehr hätten sie sich ausführlich mit der Cochlea-Implantation auseinandergesetzt und sich stets gegenüber Argumenten für diese Operation offen gezeigt.

Die Verfahrensbeiständin des Kindes sowie später auch das Jugendamt haben sich ebenfalls dafür ausgesprochen, keine familienrechtlichen Maßnahmen zu ergreifen.Der Beschluss ist noch nicht rechtskräftig.

Was ist eine Cochlea-Implantation?


Ein Cochlea-Implantat dient bei einem angeboren hochgradig schwerhörigen Kind der elektrischen Stimulierung des Hörnerves und damit der Reifung der Hörbahn. Bei normalhörenden Kindern erfolgt dieser Prozess allein über die Haarzellen in der Hörschnecke. Das Cochlea-Implantat kann seine Funktion nur während der frühen Kindheit erfüllen. Eine spätere Reizung der Hörnerven führt nicht zu einer gleichen qualitativ hochwertigen Hörbahnreifung. Bei einer Cochlea-Implantation wird der Knochen hinter dem Ohr nahezu vollständig von Zellen befreit. Es wird ein Zugang zum Mittelohrraum zusätzlich geschaffen und dann das Innenohr künstlich im Bereich der runden Fenstermembran eröffnet und eine Elektrode eingeführt. Außerdem wird auf der Schädelkalotte in ein Knochenbett gebohrt, um das Implantat sicher in diesem Knochenbett vor mechanischer Beeinflussung zu schützen. Die Implantation erfolgt unter Vollnarkose.

Lesen Sie auch:


https://regionalbraunschweig.de/zwangs-op-gehoerlosenexpertin-kritisiert-jugendamt/

https://regionalbraunschweig.de/zwangsimplantation-familiengericht-will-weitere-gutachten/

https://regionalbraunschweig.de/klinik-eklat-erinnerung-an-behindertenfeindliche-tendenzen/

https://regionalbraunschweig.de/zwangsoperation-klinik-chefarzt-soll-eltern-angezeigt-haben/


mehr News aus der Region


Themen zu diesem Artikel


Justiz