Goslar. Mit einem Brandbrief meldete sich der FDP-Ratsherr Christian Rehse von der hiesigen FDP in der vergangenen Woche an das Landesinnenministerium des Landes. Der Grund: Seit 2013 konnte die Stadt Goslar keine Jahresabschlüsse mehr vorweisen. Aus Sicht der FDP sei dieser dauernde Verstoß gegen das Kommunalverfassungsgesetz nicht weiter hinzunehmen. Die Fraktion nimmt aus diesem Grund das Innenministerium und Oberbürgermeister Oliver Junk in die Pflicht.
Ratsherr Rehse argumentiert, dass man sich seit Jahren auf mündliche Aussagen oder vage ungeprüfte Rechnungsergebnisse der Stadtverwaltung verlassen müsse. Die fehlenden Jahresabschlüsse machen eine zukunftsfeste Haushalts- und Investitionsplanung demnach unmöglich. Fehlbeträge, die aus dem Haushalt des vorangegangenen Jahres entstanden sind, könnten nicht gesichert beziffert werden und demnach im nächstmöglichen Haushalt nicht berücksichtigt werden. Ob die Nettobilanz einer Kommune positive oder negativ ist, lasse sich so nicht feststellen.
Der Finanzbereich werde "gezielt vernachlässigt"
Rehse erklärt in einer E-Mail an den Oberbürgermeister: "In der letzten Sitzung des Finanzausschusses haben wir nach den Verwaltungsvorgaben für das Jahr 2020 nachgefragt. Es wurde sehr deutlich, dass von der Verwaltung diese gesetzliche Aufgabe nicht als dringlich angesehen wird. Während ständig andere Projekte aufgenommen und mit neuem Personal ausgestattet werden, wird dieser Bereich gezielt vernachlässigt. Weder der Beschluss private Fachunternehmen einzubeziehen noch eine Verstärkung der Fachbereiche vorzunehmen, wurde in den letzten Jahren dauerhaft umgesetzt."
Doppelstandards bei Kommunen?
In der Privatwirtschaft sei ein derartiges Vorgehen undenkbar, betont der FDP Ratsherr: "Stellen Sie sich bitte einen solchen Fall bei einer Fusion in der gewerblichen Wirtschaft vor. Sicherlich sind auch hier das Finanzamt und die anderen zuständigen Behörden zu einer begrenzten Verlängerung der Jahresabschlüsse bereit." Nachweislich werde die Frist unter Umständen zwar um ein Jahr verlängert, dann aber, so Rehse: "macht sich jeder Unternehmer oder Bürger strafbar." Er wundere sich nicht nur über das Verhalten der Stadt, sondern auch darüber, dass das Innenministerium als zuständige Aufsichtsbehörde die fehlenden Jahresabschlüsse schon so lange dulde, die milden Rügen des Ministeriums würden ihrerseits von der Stadt "ignoriert".
Auch der Bund der Steuerzahler möchte sich diesen "haushaltsrechtlich problematischen Vorgängen" annehmen. "Es fehlt hier offensichtlich eine eindeutige Anweisung des Oberbürgermeisters an den Fachbereich nun endlich zeitnah die Jahresabschlüsse der Stadt Goslar zu erstellen", begründet Rehse das Tätigwerden seiner Fraktion abschließend.
"Für die Verzögerung gibt es Gründe", erklärt die Stadt Goslar in einer Stellungnahme. Kernpunkt sei die Umstellung auf ein neues Finanzsystem, welches in viele Kommunen bekanntermaßen Probleme verursacht hat. Ursprüngliches Haushaltssystem der Stadt Goslar war bis zum Jahr 2010 die sogenannte "Kameralistik", dieses Konzept stammt größtenteils aus dem 18. und 19. Jahrhundert und gilt in der modernen Finanzwelt als zu unflexibel. Die "Doppik", also die der doppelten Buchhaltung die auch Privatwirtschaft zum Einsatz kommt, verspreche bessere Übersicht und detailliertere Haushaltspläne.
Umstellung des kommunalen Rechnungswesens
Anders als in der Kameralistik werden Vermögenswerte wie Abschreibungen, Schulden und städtische Immobilienwerte bei der Doppik direkter Teil des Haushaltsplanes, gegliedert in eine "Soll" und "Haben" Seite. In der Kameralistik waren hierfür umständliche und bisweilen veraltete Erweiterungen nötig. Mit dem Umstieg in die "Doppik" mussten etwa Werte eines Grundstücks oder einer Immobilie neu bestimmt werden. Die Vorbereitungen auf den Zukunftsvertrag im Jahr 2012 hätten die Verwaltung in Vienenburg zusätzlich belastet, "Angesichts der Erschwernisse wurde der Fokus dann auf die Umstellung des Finanzsystems von der Kameralistik auf die Doppik gelegt, um zumindest eine ordnungsgemäße laufende Buchhaltung zu gewährleisten", erklärt Vanessa Noehr als Sprecherin der Stadt Goslar.
Die Städte Goslar und Vienenburg fusionierten am 1. Januar 2014. Man habe den Schwerpunkt daher auf die Zusammenführung der Goslarer und Vienenburger Finanzverwaltung gelegt. "Nachdem diese Maßnahmen abgearbeitet waren, wurde die Arbeit an der Eröffnungsbilanz der Stadt Vienenburg fortgesetzt und zum Abschluss gebracht", so Noehr.
Personelle Vorwürfe haltlos
Der Vorwurf, die Stadt habe keine externe Wirtschaftsprüfungsgesellschaft beauftragt und damit den Ratsbeschluss nicht umgesetzt, sei falsch, erklärt die Stadt Goslar. "Am 7. April 2017 wurde ein Unternehmen beauftragt und war von April 2017 bis August 2019 für die Stadt tätig." Auch personell hätte man aufgestockt: "Der Fachdienst Haushalt und Controlling wurde personell mit einer Stelle verstärkt unter Anordnung von Mehrarbeitsstunden. Die Stadt hat sich in der Vergangenheit intensiv bemüht, die fehlenden Jahresabschlüsse nachzuholen."
Ministerium folgt Argumentation der Stadt
Das Innenministerium des Landes Niedersachsen äußert sich ähnlich zu den FDP-Vorwürfen. Der Zeitverzug sei der Behörde bekannt, heißt es in einer Antwort auf eine Anfrage unserer Online-Zeitung. "Er ist insbesondere auf die Fusion mit der Stadt Vienenburg zurückzuführen. So hatte die Stadt Vienenburg zum Zeitpunkt der Fusion 2014 weder ihre Eröffnungsbilanz noch die Jahresabschlüsse seit 2010 beschlossen", erläutert das Ministerium und folgert: "Ohne diese Beschlüsse konnte die Stadt Goslar ihre eigenen Jahresabschlüsse (ab 2014 für den durch die Fusion erweiterten Haushalt) bislang nicht weiter erstellen. Der Rückstand bezüglich der Stadt Vienenburg ist seit Kurzem aufgeholt."
Der Rückstand werde regelmäßig sowohl schriftlich als auch in Gesprächen thematisiert, so das Ministerium. Man fordere zwar ein möglichst schnelles, sukzessives Aufarbeiten ein, verzichte im Rahmen der Ermessensausübung aber auf weitergehende Maßnahmen: "Aufgrund der fehlenden Jahresabschlüsse hat das Innenministerium der Stadt Goslar die ansonsten wohl bestehende dauernde Leistungsfähigkeit (Anm. d. Red.: Die gesicherte, langfristige Zahlungsfähigkeit einer Kommune und alle damit verbundenen Vorteile) nicht zuerkannt."
Der Haushalt für das Jahr 2020 liege zwar bereits vor, sei aber noch nicht abschließend geprüft worden. Das Ministerium wolle sich daher nicht dazu äußern, ob der Stadt zu den bis dato fehlenden Haushaltsabschlüssen Auflagen gemacht werden.
mehr News aus Goslar