Lost Places: Ein Streifzug durch Lehres Nazifabrik

In der ehemaligen Heeresmunitionsanstalt Lehre werden ab diesem Jahr die letzten Munitionsreste geräumt. Wir haben uns über das Gelände führen lassen.

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Uwe Otte vor einer der alten Produktionshallen. Der pensionierte Lehrer setzt sich seit den 1980er Jahren dafür ein, dass die Heeresmunitionsanstalt Lehre nicht vergessen wird.
Uwe Otte vor einer der alten Produktionshallen. Der pensionierte Lehrer setzt sich seit den 1980er Jahren dafür ein, dass die Heeresmunitionsanstalt Lehre nicht vergessen wird. | Foto: Niklas Eppert

Lehre. Im Forst Kampstüh zwischen Lehre und Flechtorf liegt ein Ort, der trotz historischer Bedeutung für den Landkreis Helmstedt, bei vielen Menschen so gut wie aus dem Gedächtnis gestrichen ist. Die Rede ist von der Heeresmunitionsanstalt, die im Zweiten Weltkrieg Munition für Hitlers Vernichtungskrieg produzierte. Heute sind auf einem Teil des Geländes Firmen angesiedelt, die friedlicherem Gewerbe nachgehen. Doch ganz will die Vergangenheit die sogenannte MUNA nicht loslassen. Noch heute liegen Patronen, Granaten und Minen unter dem Waldboden vergraben. regionalHeute.de hat sich auf einen Rundgang begeben.


Seit 1981 verfolgt Uwe Otte die Entwicklung der Heeresmunitionsanstalt Lehre, kurz MUNA. Damals, als er für eine Bürgerliste in den Rat Lehres gewählt wurde, habe die MUNA niemanden wirklich interessiert. Sie sei eben da gewesen, erzählt der seit dem vergangenen Sommer pensionierte Lehrer. Die Anlage war ein Jahr zuvor in die Schlagzeilen gekommen, als ein Jugendlicher sich eine Granate vom Gelände gestohlen hatte und nach eigener Aussage durch austretendes Senfgas verletzt worden sei. Kurze Zeit später habe zusätzlich eine rechtsextreme Wehrsportgruppe im ehemaligen Frauenlager der MUNA ein Zeltlager abhalten wollen. Spätestens seitdem kämpft Otte für eine Aufarbeitung der Anlage, die mittlerweile einem Investor aus Wolfsburg gehört.

Die alte Wache der MUNA. Das Gelände ist größer als der Ort Lehre selbst. Heute haben sich auf den 220 Hektar mehrere Betriebe angesiedelt.
Die alte Wache der MUNA. Das Gelände ist größer als der Ort Lehre selbst. Heute haben sich auf den 220 Hektar mehrere Betriebe angesiedelt. Foto: Niklas Eppert


Wir treffen Uwe Otte vor der MUNA, an einem Eingang, wo das ehemalige Gebäude der Lagerwache noch heute steht. Überhaupt ist die Anlage an vielen Stellen gut erhalten: Die ehemaligen Lagerhallen für nicht explosive Munition stehen noch heute im Originalzustand, die originalen Inschriften an den Gebäuden sind teils sehr gut sichtbar. Die meisten Gebäude werden heute von Betrieben genutzt, etwa einer KfZ-Werkstatt oder einem Flaggenhersteller. In einem alten Lager ist heute das Jugendzentrum der Gemeinde Lehre untergebracht.

Eine Anlage größer als das Dorf


Die Geschichte der Heeresmunitionsanstalt Lehre begann 1934, als die Wehrmacht die ursprünglich 160 Hektar große Anlage vom damaligen Freistaat Braunschweig erwarb. Die Bewohner hätten das zunächst als Segen empfunden. Lehre sei damals bäuerlich geprägt gewesen, erzählt Otte, Industriearbeitsplätze habe es in erreichbarer Nähe kaum gegeben. Durch die MUNA änderte sich das, spätestens, als die Bauarbeiten losgingen. Der vorher als Naherholungsgebiet genutzte Forst "Kampstüh" wurde teilweise gerodet, Bahnschienen wurde verlegt, Bunker und Lagerhallen gebaut. Über den Zweck habe die Bevölkerung damals nicht nachgedacht. Man sah vor allem die gut bezahlt Arbeitsplätze.

Auf dem gesamten Gelände wurden im Dritten Reich Bahnschienen gelegt, über die die Munition über Lehre und Braunschweig an die Fronten verteilt wurde. Die Wehrmacht entwickelte dafür eigens eine Diesellok, die die damaligen Dampfloks ersetzen sollte. Bei Kohleantrieben kam es zu Funkenflug und damit bestand Explosionsgefahr.
Auf dem gesamten Gelände wurden im Dritten Reich Bahnschienen gelegt, über die die Munition über Lehre und Braunschweig an die Fronten verteilt wurde. Die Wehrmacht entwickelte dafür eigens eine Diesellok, die die damaligen Dampfloks ersetzen sollte. Bei Kohleantrieben kam es zu Funkenflug und damit bestand Explosionsgefahr. Foto: Niklas Eppert


Mit den Jahren wuchs die MUNA, bis auf 220 Hektar. Der Platz wurde benötigt. 92 Bunker entstanden auf dem Gelände, zur Lagerung explosiver Munition. Bis zu 1,1 Millionen Schuss Munition konnten in jedem Bunker gelagert werden, flankiert von bis zu 750 Granaten und Landminen, bis zum Kaliber 38 für Schiffskanonen. Für die Mitarbeiter dagegen habe es keine Bunker gegeben. Im Falle eines Bombenangriffs hätten sie nur beten können.

Die Toten von Lehre


Die schiere Menge der gelagerten Munition gibt einen Ausblick auf den Durchsatz des Lagers. Hunderte Menschen arbeiteten an der Munition, davon 100 Frauen aus dem Umkreis. Hinzu kamen 100 sowjetische Frauen, samt und sonders zum Arbeitsdienst gezwungen. Der Kern der Arbeitskräfte waren jedoch 400 sowjetische Kriegsgefangene, die ab 1941 in der MUNA Zwangsarbeit verrichten mussten. Unter miserablen Bedingungen.

Die Produktion erforderte den Umgang mit gefährlichen Chemikalien, Schwefel etwa. Schutzausrüstung gab es nicht, schon gar nicht für die Zwangsarbeiter. Selbst die eigentlich höhergestellten deutschen Frauen wurden in Alltagskleidung an die Fertigungsstätten gestellt. Über die Spätfolgen der Arbeit lässt sich heute nur spekulieren. Aufgearbeitet wurde das nie. Nur Anekdoten sind erhalten. Etwa, dass es Streit zwischen deutschen und sowjetischen Frauen gab, weil die Chemikalien die dunklen Haare der Zwangsarbeiterinnen blond färbten. Die deutschen Frauen beschwerten sich, dass die "Russinnen" Muße hätten sich die Haare zu färben. Eine der russischen Frauen, deren Geschichte überliefert ist, hat später jahrzehntelang Probleme Gewicht aufzubauen, erlitt Fehlgeburten. Dass das an den Arbeitsverhältnissen lag, sei zumindest wahrscheinlich.

Einer der Bunkereingänge auf dem MUNA-Gelände. Bunker waren ausschließlich für Offiziere und Munition vorgesehen. Im Falle eines Luftangriffs wäre die Belegschaft schutzlos gewesen. Heute hausen Fledermäuse in den Betonklötzen.
Einer der Bunkereingänge auf dem MUNA-Gelände. Bunker waren ausschließlich für Offiziere und Munition vorgesehen. Im Falle eines Luftangriffs wäre die Belegschaft schutzlos gewesen. Heute hausen Fledermäuse in den Betonklötzen. Foto: Niklas Eppert


Unter den sowjetischen Zwangsarbeitern sind 19 Tote bestätigt, bei einem ist die Erschießung offiziell in die Personalakte eingetragen. Neben Uhrzeit und Ort der "Tätigkeit" steht lapidar das Todesurteil notiert. Bei den weiteren Todesopfern, so erzählt Uwe Otte, seien verschiedene Gründe verzeichnet, meist Typhus, wie in so vielen anderen Arbeitslagern. Hunger und Krankheit seien die Regel unter den Arbeitern gewesen.

Waffenproduktion mitten im Wald


Die MUNA liegt in einem kleinen Waldstück, umringt von Bäumen, die vier der ursprünglich 92 Bunker sind, damals wie heute, mit Laub und Erde bedeckt. Im Zweiten Weltkrieg hatte das militärische Gründe. Lehre lag in der zweiten Hälfte des Krieges in der Einflugschneise alliierter Bomber auf dem Weg nach Berlin, die Angst vor einem Angriff war groß, speziell mit der Masse an Munition, die auf dem Gelände verteilt war. Im Falle von Fliegeralarm seien die Mitarbeiterinnen angehalten gewesen sich Schutz zu suchen. Der einzige Luftschutzbunker des Geländes sei den 50 Wehrmachtsoffizieren vorbehalten gewesen. Am Ende blieb die Anstalt von Bombenkrieg verschont, weil die Flieger sich eher auf die Versorgungswege konzentrierten. Ohne Eisenbahn und Straßenverbindungen konnte die MUNA produzieren, wie sie wollte. Eine Granate im Lager nützt dem Artilleristen an der Front wenig.

Der Krieg endete für die MUNA am 12. April 1945, keine vier Wochen vor der Kapitulation durch das deutsche Oberkommando. Die 5. Panzerdivision der Amerikaner hatte einen Tag zuvor Lehre eingenommen, Offiziere und Soldaten hatten sich abgesetzt. Zuvor waren noch chemische Waffen in der MUNA eingelagert worden, die von der Ostfront in die vermeintliche Sicherheit Lehres gebracht worden waren. Am Ende nutzte es den Deutschen nichts. Statt von Maschinengewehrfeuer wurden die G.I.s von französischen Kriegsgefangenen begrüßt, die aus Stoffresten die Tricolore geschneidert hatten. Bis zum 11. April hatte die MUNA noch produziert. Für einen Krieg, der längst verloren war.

In einem der Lagergebäude ist heute das Jugendzentrum der Gemeinde untergebracht. Aktuell ist es jedoch wieder verwaist. Durch die COVID19-Pandemie musste die Einrichtung geschlossen werden.
In einem der Lagergebäude ist heute das Jugendzentrum der Gemeinde untergebracht. Aktuell ist es jedoch wieder verwaist. Durch die COVID19-Pandemie musste die Einrichtung geschlossen werden. Foto: Niklas Eppert


Zurück zum Naherholungsgebiet


Heute ist das Gelände nach wie vor mit Bäumen bewachsen, zwischen denen kleinere Betriebe ihre Arbeit verrichten. Das Gelände steht Besuchern jederzeit offen. Seit 2015 bieten Uwe Otte und anderen Ehrenamtliche Führungen über das Gelände an, die gerade an besonderen Tagen, wie dem 8. Mai als Tag der Befreiung vom Naziregime, großen Zuspruch erfahren. Bis zu 250 Besucher strömen dann auf das Gelände, um die noch gut erhaltenen Originalgebäude zu sehen. Otte liefert die Geschichte dazu. Sogar ehemalige französische Kriegsgefangene, die in Lehre eingesetzt waren, besuchten die Führungen.


In diesem Jahr beginnt außerdem die Räumung der "Neuen Wiese", auf der die Briten zwischen 1945 und 1951 die Lagerbestände der Heeresmunitionsanstalt sprengten. Mit dem Abschluss dieser Arbeiten endet auch für Otte ein langer Kampf in der Lokalpolitik. Früher sei das Thema nicht ernst genommen worden. Heute sei dies anders, man überlege Schilder vor den Gebäuden aufzustellen, eine Ausstellung auf dem Gelände zu errichten. Früher, so Otte wäre das undenkbar gewesen. Heute stehen der Bürgermeister der Gemeinde und der Besitzer des Geländes hinter der Aufarbeitung seiner Geschichte. Für Uwe Otte das gute Ende eines fast 40 Jahre währenden Kampfes.


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