Von Henrik Stadnischenko
Braunschweig. Manchmal gibt es Situationen, in denen man gegen einen größeren Gegner kämpft, gegen den man eigentlich keine Chance hat. In diesen Momenten benötigt man eine Auszeit, einen Reiz von außen – oder eben einen Fluchtlichtausfall. Bei diesem Stichwort klingelt es bei den meisten Eintracht Braunschweig-Fans, denn ohne den berüchtigten Stromausfall wäre es wahrscheinlich nicht zu einem der größten Pokalcoups in der neueren Eintracht-Geschichte gekommen. Mit dem damaligen Trainer Michael Krüger und Daniel Graf lassen zwei ehemalige Protagonisten den historischen Abend und den 2:1-Sieg gegen Borussia Dortmund Revue noch einmal aufleben.
Und dann ging das Licht aus
Als hätte die ARD bereits im Vorfeld gewusst, dass eine Sensation in der Luft liegen sollte, ließ es sich die Sportschau nicht nehmen dieses Pokalspiel an jenem 22. August im Jahr 2005 live zu übertragen. Bereits die Einspieler ließen eine Coolness versprühen. Trainer Michael Krüger ließ damals verlauten: „Von der Psyche her sind wir sicherlich im Vorteil, denn die Situation in der Dortmund steckt, sportlich wie wirtschaftlich, ist deutlich brisanter als bei uns“.
In diesem Moment sollte noch keiner wissen, dass sich am Ende alle Eintracht-Spieler in den Armen liegen würden und wenigstens für diesen Abend bundesweit Superstars waren. Für Eintracht-Coach Michael Krüger gehörte ein Pokalsieg gegen Borussia Dortmund zur Routine, denn bereits 2001 schaltete Krüger, damals noch in Diensten vom VfL Wolfsburg II, den BVB aus. „Während der Auslosung hatte Bussi Skolik scherzhaft gesagt: Am besten kommt Dortmund, der Krüger weiß schon, wie wir die wegputzen“, blickt Krüger zurück.
Wer glaubte, dass die Vorbereitung auf das Spiel besonders ablief wird enttäuscht sein. „Wir haben den BVB behandelt, wie einen normalen Ligagegner und haben uns auch nicht mehr als sonst mit der Vorbereitung und der Trainingsgestaltung beschäftigt“, so Krüger. Den Überraschungscoup will der ehemalige Eintracht-Kapitän Daniel Graf dennoch nicht als größten sportlichen Erfolg sehen: „Gegen den BVB gewinnst du zwar nicht alle Tage, aber für mich hat der Aufstieg einen deutlich höheren Stellenwert, weil du über die gesamte Spielzeit performen musst und nicht nur in einem Spiel.“
Dass die Braunschweiger Ehrfurcht vor den Schwarz-Gelben hatten, merkte man von Beginn an, denn der BVB nahm sofort das Heft in die Hand und drängte auf die Führung. „Dortmund hat uns nicht an die Wand gespielt, sie waren dennoch zunächst dominanter als wir. In dem Augenblick als wir Sturm- und Drangphase überstanden hatten, macht Jan einen unnötigen Fehler“, so Krüger. Mit Jan ist Jan Tauer gemeint, der in der 26. Minute unbedrängt zur Ecke klärte. Der nachfolgende Eckball von Lars Ricken landete bei Christian Wörns, der den Ball elegant per Hacke auf Jan Koller weiterleitete und dieser rechts oben ins Tor traf.
„Charakter, Zusammenhalt und Mentalität"
„Im ersten Augenblick habe ich mich maßlos geärgert, dann habe ich die Jungs weiter gepusht, denn die Chance war weiterhin da, das Spiel zu gewinnen“, so der Trainer. Und wie sahen die Spieler den Rückstand? „Das 0:1 war einfach nur bitter. Das Tolle an unserer Truppe war, dass wir einen großen Charakter, Zusammenhalt und Mentalität hatten. Wir haben vor dem Spiel gesagt, egal, wie das Spiel läuft, wir geben nicht auf und lassen uns nicht abschlachten. Zudem ist selbst bei einem 0:1-Rückstand alles weiterhin offen“, so Daniel Graf.
„Die Eintracht-Fans verzeihen alles, selbst eine Niederlage. Was sie aber nicht verzeihen, wenn du nicht alles gibst. Ich wollte keine Schönspielerei sehen. Ich wollte, dass die Mannschaft bis zum Umfallen kämpft. Laufen, kämpfen, Zweikämpfe führen. Nicht nur an diesem Abend war die Stimmung überragend. Wenn die Fans und die Mannschaft eine Einheit bilden, schlägt dich zu Hause keiner!"
Auch die Zuschauer spürten, dass ihre Mannschaft Unterstützung von den Rängen brauchte. Eintracht, Eintracht, Eintracht-Aufmunterungsrufe gingen durchs Stadion. „Die Eintracht-Fans verzeihen alles, selbst eine Niederlage. Was sie aber nicht verzeihen, wenn du nicht alles gibst. Ich wollte keine Schönspielerei sehen. Ich wollte, dass die Mannschaft bis zum Umfallen kämpft. Laufen, kämpfen, Zweikämpfe führen. Nicht nur an diesem Abend war die Stimmung überragend, wenn die Fans und die Mannschaft eine Einheit bilden, schlägt dich zu Hause keiner“, war und ist sich Krüger sicher.
Daniel Graf pflichtet ihm bei. „Es hat Vor- und Nachteile für einen Traditionsverein zu spielen. Der Nachteil ist natürlich, dass schnell eine Unzufriedenheit aufkommt und man in der Vergangenheit schwimmt. Der Vorteil sind die Zuschauer. Die Eintracht-Fans hatten immer ein feines Gespür dafür, wer kämpft und ackert. Diese Macht im Rücken gibt dir als Spieler Selbstvertrauen und viele Dinge gelingen von alleine.“
Es folgte die berühmte 35. Minute, die alles verändern sollte – das Fluchtlicht versagte und im Stadion war es stockduster. Bereits der zweite Ausfall an diesem Abend, denn bereits vor Anpfiff sorgte das Fluchtlicht Probleme oder besser gesagt das defekte Stromaggregat. „Als das Licht auf einmal aus war, habe ich gedacht, dies wird in wenigen Sekunden wieder angehen. Stattdessen mussten wir zehn Minuten warten. Aus dem Augenwinkel habe ich gesehen, wie Wolfgang Loos ein wenig hektisch mit dem Schiedsrichter und Mitarbeitern aus der Technik gesprochen hat. Einen kompletten Abbruch wollte keiner“, blickt Michael Krüger zurück. Daniel Graf kam der Ausfall sogar ganz passend. „Ich hatte damals Probleme mit der Leiste und bin sofort in der Kabine verschwunden, um mir eine Wärmepackung abzuholen. Wie und wann die Partie wieder angepfiffen werden sollte, wusste keiner. Es hieß nur, wir sollen uns gedulden. Ich glaube ein kompletter Abbruch wäre eine Katastrophe gewesen.“
„Mit Jürgen habe ich mich blind verstanden."
Nach Minuten voller Dunkelheit und bangen vor dem Spielabbruch ging es dann weiter und wie es weiterging. Eintracht Braunschweig zeigte sich wie ausgewechselt. Presste, kämpfte und wollte unbedingt den Ausgleich erzielen. In der 41. Minute war es dann auch so weit: Nach einem Einwurf drehte sich Daniel Graf um seine Körperachse, ließ dabei einen Gegenspieler aussteigen und flankte maßgenau auf den Kopf von Jürgen Rische, der den Ausgleich erzielte.
„Mit Jürgen habe ich mich blind verstanden. Er hatte mir vor dem Spiel auch gesagt, dribbel nicht so viel, flank einfach, ich mache schon was aus dem Ball. Sein Kopfballtor war Marke Weltklasse“, so der heute 42-Jährige Daniel Graf. Mit dem 1:1 ging es dann auch in die Pause. Doch eine große Ansprache musste Trainer Michael Krüger in der Kabine nicht halten. „Die Jungs waren sowas von heiß, da hat jeder gebrannt und wollte sofort wieder aufs Feld zurück. Ich habe ihnen lediglich mit auf den Weg gegeben, sie sollen ruhig und besonnen weiterspielen, der Druck liegt ganz klar auf Seiten von Dortmund. Wir können abwarten und auf Konter gehen“, erklärt der 65-Jährige im Rückblick und er sollte recht behalten. Die Zeit rannte gegen Dortmund und die Partie wurde hitziger.
Doch in der 84. Minute gab es kein Halten mehr im Eintracht-Stadion. Jan Tauer flankte mustergültig auf Daniel Graf, der mit rechts annahm und mit rechts abschloss – das vielumjubelte 2:1. Nach dem Tor lief Daniel Graf zu einer TV-Kamera und rief etwas Unverständliches hinein. „Mein Schwiegervater hatte einen schweren Unfall. Wir war es wichtig Genesungswünsche auszurichten. Auch wenn er danach wieder gesundend ist, wird das Spiel immer ein besonderes mit einer persönlichen Note bleiben.“
Tollhause Eintracht-Stadion
Nach dem Abpfiff verwandelte sich das gesamte Stadion zu einem Tollhaus, die Fans lagen sich in den Armen und die Spieler hatten in den Glückstränen in den Augen. Doch wie ging es nach der Partie weiter? Michael Krüger machte es sich mit Bussi Skolik in der Kabine mit Zigarre und Bier gemütlich.
Und seine Spieler? „Die waren auf einmal verschwunden. Ich weiß auch gar nicht, wo die Jungs hin sind. Im Nachhinein ich gehe mal davon aus, dass sie pflichtbewusst wie sie waren, frühzeitig im Bett verschwunden sind“, erklärt Michael Krüger lachend. „Gut, dass der Trainer nicht wusste, wo wir waren. Mit Jan Tauer hatten wir im Team einen Partylöwen vor dem Herrn. Egal, ob Bar oder Disko, der wusste immer, wo eine Party stattfand“, so Graf lachend. Der besondere Zusammenhalt in der Mannschaft zeigte sich bereits im nachfolgenden Spiel. Obwohl die Eintracht-Spieler bis in die frühen Morgenstunden des Dienstags unterwegs waren, gewannen sie das Freitagspiel bei Hansa Rostock trotz Rückstands mit 3:2 – zweimaliger Torschütze Daniel Graf.
„Die Charaktere haben einfach gepasst. Die jungen Spieler kamen mit den erfahrenen Spielern klar. Wenn Ansagen gemacht wurden, gab es keine Widerworte. Außerhalb des Platzes hat man sich verstanden, das hat echt Spaß gemacht. Ich weiß gar nicht, ob ich diese Worte überhaupt benutzen darf, aber wir hatten eine echt geile Truppe“, so Daniel Graf, der zum Heimspiel gegen den FC Carl Zeiss Jena im Stadion sein wird. „Obwohl ich jetzt in Kaiserslautern wohne, blicke ich nach jedem Spiel auf die Tabelle und schaue mir jede Zusammenfassung der Eintracht-Spiele an. Auch wenn ich verletzungsbedingt meine Karriere in Braunschweig beenden musste, war die Braunschweig-Zeit, die sportlich schönste Zeit in meinem Leben.“

Publikumsliebling Daniel Graf (li.) 20017 beim Abschied zusammen mit Torsten Lieberknecht, Jürgen Rische und Alexander Kunze. Foto: imago/Hübner