Innerhalb von nur wenigen Tagen sind in einem Wolfsburger Altenpflegeheim 17 Senioren am Coronavirus gestorben. Seelsorger kommen mit ihrer Arbeit kaum noch hinterher. "Es geht nur noch um Abholung und Bestattung", klagt Michaela Keitel, die Seelsorgerin des Heims. FOCUS Online hat die Pastorin geschildert, wie sie diese "unfassbare Tragödie" in dem betroffenen Heim erlebt.
Tief und grau hängen am Montagabend die Wolken über dem Klieversberg. Es hat geschneit an diesem kühlen, vorletzten Märztag. Doch der Frühling bricht sich Bahn. Aus dem dunklen Geäst des Buchenwalds, der in eine dreigeschossige Wohnanlage aus Beton hineinzuwachsen scheint, schimmert bereits ein erster Hauch Grün.
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Rund 165 vorwiegend demenzkranke Senioren leben in diesem Heim. Doch 17 von ihnen werden diesen Frühling nicht erleben. Das Coronavirus hat sie sich genommen. Innerhalb von wenigen Tagen.
Seelsorgerin ringt um Fassung
Michaela Keitel kennt so gut wie alle Bewohner der Anlage. Seit 21 Jahren kümmert sich die Pastorin um die Seelsorge im Hanns-Lilje-Pflegeheim, das vom Diakonischen Werk betrieben wird. Sie hat schon viel erlebt in diesen Jahren. „Aber 17 Tote in nur wenigen Tagen – das ist selbst für ein Altersheim furchtbar viel. Das ist eine unfassbare Tragödie“, versucht die Pastorin im Gespräch mit FOCUS Online die Lage mit einfachen Worten zu umschreiben.
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Am 23. März starb der erste Bewohner an einer Covid-Infektion, am Donnerstag und Freitag kamen je vier weitere dazu, sechs am Wochenende, zwei nun am Montag. Mehr als die Hälfte der Bewohner hat sich mit dem Virus infiziert.
Ein Großteil der Bewohner sei so schwer dement, dass sie das Geschehen nur schwer erfassten können, sagt Keitel. „Das, was den Mitarbeitern und mir das Herz gebrochen hat, war der Moment, als sie eingeschlossen werden mussten." Denn der Kontakt untereinander, das ständige Sich-Sehen, vertraute Gesichter wiederzuentdecken, die ständige Arbeit mit den Pflegern sei für Demenzkranke von ganz zentraler Bedeutung. „Und sie verstehen nicht, dass sie auf diese Rituale nun zu einem Großteil verzichten müssen.“
Senioren wandern singend im Treppenhaus
Wie das Pflegepersonal versuche auch sie daher, bei ihren Besuchen so gut wie möglich zu improvisieren. Was gar nicht so einfach sei, wenn man schwitzend stundenlang unter einer Schutzkleidung stecke, mit Mundschutz, Schutzbrille und Kapuze auf dem Kopf, die nun das gesamte Personal tragen müsse. Klassische Gottesdienste etwa seien in dieser Zeit nicht mehr möglich. „Wir übertragen sie über Lautsprecher in die Zimmer der Bewohner.“
Zwei hochbetagte Damen, die sie kürzlich in diesem Aufzug getroffen und doch wiedererkannten, hätten gewitzelt, sie sehe aus wie eine „Marsianerin“, erzählt Pastorin Keitel. Die beiden hätten sich gegrämt vor Langeweile wegen des Ausgehverbots. Daher habe sie ihnen vorgeschlagen, mit ihr doch „eine Art Marsreise“ zu machen – und zwar im Treppenhaus. „Ich bin mit ihnen ein paar Mal hoch und runtergegangen. Dabei haben wir ‚Das Wandern ist des Müllers Lust‘ gesungen. Das hat ihnen sehr viel Spaß gemacht.“ Nach kurzer Zeit seien sie ziemlich erschöpft gewesen und hätten darum gebeten, wieder zu ihren Wohnungen zurückgebracht zu werden.
Pastorin fassungslos über Vorwurf "fahrlässiger Tötung"
Ihre zweite große Sorge gelte den Mitarbeitern, dem Pflegepersonal, das sich regelrecht aufopfere für die Bewohner. „Sie sind total erschöpft, machen Schichten, die viel länger dauern als üblich, da mehrere Kollegen wegen ihrer Kinder zu Hause bleiben müssen“. Umso erstaunlicher sei es, „wie viel Adrenalin trotz aller Überlastung bei den Mitarbeitern freigesetzt wird für den Versuch, trotz aller Schwierigkeiten da durchzukommen“.
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Was sie hingegen fassungslos mache, seien der erhobene schwere Vorwurf der „fahrlässigen Tötung“. Ein Wolfsburger Anwalt hat ihn am Montag in einer Strafanzeige gegen die Führung der Diakonie wegen angeblicher hygienischer Missstände erhoben. Beschäftigte sollen sich unter anderem über das Fehlen von Atemschutzmasken beschwert haben, berichtete die „Wolfsburger Allgemeine“. Die Staatsanwaltschaft prüft derzeit die Anzeige. „Ich kann diese Vorwürfe nicht nachvollziehen und habe eine hohe Wertschätzung, was den Einsatz der Pfleger für die Bewohner betrifft.“
Abschied unmöglich: „Geht nur noch um Abholung und Bestattung“
Auch Aussegnungen könnten nicht mehr wie gewohnt mit den Angehörigen Verstorbener abgehalten werden. Diese hätten damit keine Gelegenheit mehr, vor der Bestattung von ihren Angehörigen Abschied zu nehmen. Angehörige dürfen das Pflegeheim während der Epidemie aus Sicherheitsgründen nicht mehr betreten. „Auch kommen wir wegen der vielen Todesfälle kaum noch mit unserer Arbeit hinterher. Es geht fast nur noch um Abholung und Bestattung.“
Kapellengottesdienste seien seit dem 16. März nicht mehr möglich, ganz gleich, ob die Verstorbenen eingeäschert oder erdbestattet würde, was im Augenblick „kaum noch der Fall ist“, merkt die Seelsorgerin des Hanns-Lilje-Heims an. Orgelmusik vor der Bestattung sei damit ebenfalls nicht mehr möglich, denn Bestattungen dürften wegen der Ansteckungsgefahr nun nur noch in kleinen Gruppen und unter freiem Himmel stattfinden.
Doch zum Glück seien auch die Organisten der Trauergemeinden durchaus flexibel, weswegen selten auf Musik verzichtet werden müsse: „Es gibt mehrere, die neben der Orgel auch Querflöte und Trompete spielen.“
Dieser Artikel erschien zuerst bei unserem Partner Focus Online.
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