Vorbild Schweden? Wie es ist, nicht mal sein Bier bar zahlen zu können


Symbolbild: Anke Donner
Symbolbild: Anke Donner | Foto: Anke Donner

Astrid Lindgren hat es spät geschafft, aber sie hat es geschafft. Seit 2015 ziert das Foto der weltberühmten Kinderbuchautorin den schwedischen 20-Kronen-Geldschein. Aber die Schweden haben fast kein Geld mehr. Bares ist Rares, hat FOCUS-Online-Reporter Ralph Grosse-Bley bei seiner Reise ins Land der 220.000 Inseln festgestellt.


von FOCUS-Online-Autor Ralph Grosse-Bley

Man mag die Zahl kaum glauben: Vor einem Jahr waren in ganz Schweden nur noch rund 57 Milliarden Kronen (etwa 5,5 Milliarden Euro) im Umlauf. Wie ist so etwas möglich?

Nein, bar bezahlen kann ich das Bier, das ich abends aus dem Kühlschrank des Hotels „Turinge“ hole, wirklich nicht. Der Hotelchef, Rani (35) lächelt. Das coole, ziemlich neue Bed & Breakfast bei Södertälje (nahe Stockholm) funktioniert komplett bargeldlos. Rani, ein in Schweden geborener Sohn armenischer Einwanderer, spendiert mir das Bier und erzählt von seinem Hotel, das an der Autobahn liegt und irgendwie ziemlich deutsch wirkt. Nur ein paar Kilometer entfernt liegt die Zentrale des Scania-Konzerns, den VW 2015 geschluckt hat.

Es war nicht die schlechteste Idee, in der Nähe ein Hotel mit moderaten Preisen für Geschäftsreisende aufzumachen. Rani grinst – wenn Schweden aus den Sommerferien zurück ist, wird das „Turinge“ wieder regelmäßig ausgebucht sein. „Ich müsste vielleicht noch Deutsch lernen“, sagt Rani, der mit einer Griechin verheiratet ist und gern dort unten am Mittelmeer leben würde, wenn die wirtschaftliche Lage der Griechen nicht so bescheiden wäre.

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80 Prozent aller Einkäufe sind bargeldlos



Und in Schweden brummt die Wirtschaft, dieses Jahr wird ein Wachstum von 2,6 Prozent erwartet, auch (fast) ohne Bargeld. Die Schweden erledigen heute schon 80 Prozent aller Einkäufe bargeldlos. Die Deutschen kaufen dagegen 80 Prozent bar ein. Und fühlen sich bevormundet, weil die Europäische Zentralbank überlegt, den 500-Euro-Schein abzuschaffen – weil er bevorzugt wird von Geldwäschern und Steuer-Ganoven. Man wird doch selbst entscheiden können, wie man was bezahlt, oder?

Da sind die Schweden anders, mindestens die, die in den Städten leben. Da sind digitale Bezahldienste wie „Swish“ selbst auf dem Flohmarkt oder im Kiosk völlig üblich. Davon sind wir Deutschen noch ganz weit entfernt. Keine Seltenheit, dass man hierzulande erst ab zehn Euro mit der EC-Karte zahlen kann. Bis 2025, erfahre ich bei der Deutsch-Schwedischen Handelskammer, will jeder zweite Einzelhändler in Schweden Bargeld komplett abgeschafft haben. 2025 – das ist gefühlt übermorgen.

Und die Stimmung ist gut, bei den Parlamentswahlen im September sind die schlimmsten Befürchtungen nur halbwahr geworden: Die rechtspopulistischen „Schwedendemokraten“ haben zwar hässliche 17,5 Prozent abgeräumt, sind aber wenigstens nur drittstärkste Kraft hinter den Sozialdemokraten (28,3 Prozent) und den Christdemokraten (19,8 Prozent) geworden. Wegen des Aufstiegs der „Schwedendemokraten“ hat die links-grüne Minderheitsregierung von Regierungschef Stefan Löfven (61) vor Jahren ihre sehr asylfreundliche Politik deutlich ändern müssen. Heute liegt der Ausländer-Anteil in Schweden bei etwa acht Prozent (Deutschland: gut elf Prozent). Was auffällt: Von den acht Prozent Ausländern in Schweden ist fast die Hälfte weiblich. Das sieht in Deutschland heute anders aus.

„Ehrgeiz" ist in Schweden ein negativer Begriff


Was bleibt nach 10 Tagen Schweden-Rundreise? Was können wir tatsächlich in Sachen Wirtschaft lernen? Die Schweden sind weiter, was die Gleichberechtigung angeht, auch die Digitalisierung. Unser Elterngeld ist gegen das schwedische (480 Arbeits-Tage, frei verfügbar über viele Jahre) eher arm. Wer in Schweden arbeiten und/oder investieren will, muss wissen: Die Schweden lieben den Konsens und die „Fikapaus“ (die Kaffeepause, je öfter, desto besser).

Ninni Löwgren hat in ihrem Handbuch „Der schwedisch-deutsche Businessführer“ klar dargestellt: Für die Schweden sind „Ehrgeiz“, „Hierarchie“ und „Wettbewerb“ Begriffe, die sie für negativ halten, die Deutschen aber für positiv. Dafür empfinden die Deutschen den „Kompromiss“ als negativ, die Schweden als positiv. Kompromiss ist in Deutschland, wenn sich keiner durchsetzen konnte, und am Ende irgendwas rauskommt, was keiner will. In Schweden ist der Kompromiss das, an dem alle beteiligt waren und mit dem alle gut leben können. Das kann man auf jeden Fall von Schweden lernen.

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