Wie Migranten in Japan helfen, das Land sicher zu machen


Eine Nachbarschaftspatrouille zwischen Migranten und Japanern in einer Vorstadt von Tokio. Foto: Malte Arnsperger/FOCUS Online
Eine Nachbarschaftspatrouille zwischen Migranten und Japanern in einer Vorstadt von Tokio. Foto: Malte Arnsperger/FOCUS Online | Foto: Malte Arnsperger/FOCUS Online

FOCUS-Online-Redakteur Malte Arnsperger

Dienstag, 02.10.2018, 08:00
Ist die Zuwanderung eine Bedrohung für die innere Sicherheit? Muss das so sein? Die Japaner glauben fest an das Prinzip von Sicherheit durch Integration. FOCUS-Online-Reporter Malte Arnsperger hat zwei Gemeinden besucht, in denen Muslime und Kurden gemeinsam mit Japanern auf Nachbarschafts-Patrouille gehen. Ein Ziel: mehr Sicherheit, weniger Vorurteile.

von FOCUS-Online-Autor Malte Arnsperger

Die Integration der Muslime in Tokios Vorstadt Chiba begann mit einem Anschlag vor rund zwei Jahren. Ein Mann schleuderte abends einen Stein auf die Moschee im Ortsteil Inage, eine Scheibe ging zu Bruch. Später legte er die Scherben vor die Einfahrt zur Moschee. Der Mann wurde geschnappt, ein psychisch Kranker aus der Nachbarschaft. Sein Motiv: purer Fremdenhass.

Was danach in Chiba geschah, zeigt beispielhaft, wie Integration gelingen kann – auch in einer Gesellschaft wie der japanischen, mit wenig Ausländern und vergleichsweise wenig Erfahrung im Umgang mit fremden Kulturen. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die gemeinsame Sorge um Sicherheit.

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In Chiba-Inage gibt es nämlich seit 2017 gemeinsame Rundgänge der meist aus Bangladesh, aber auch Pakistan und Indien stammenden Muslime mit den einheimischen Mitgliedern der Nachbarschafts-Organisation. Und den Impuls dazu gab die Polizei. Die Muslime hatten den Angriff auf ihre Moschee angezeigt und sich über weitere Anfeindungen beschwert. Die nicht-muslimischen Anwohner störte der zunehmende Verkehr vor den Gebetsräumen in einem ehemaligen Mietshaus. Und sie fühlten sich eingeschüchtert von den vielen fremden und großen Männern mit dunklem Teint und dichten Bärten.

Die Polizei empfahl den Muslimen, sich doch mit der Gemeinde und vor allem mit der Nachbarschafts-Organisation von Masatoshi Saito auszutauschen. Allein in Chibas Stadtteil Inage (rund 150.000 Einwohner) gibt es 187 solcher Organisationen. Mehr als zwei Drittel aller Einwohner sind laut Gemeindeverwaltung in einer davon registriert. (Details siehe Kasten)

Gemeinsame Patrouille



Die Polizei als Partnerschafts-Vermittler – Saitos Leute und die Muslime kamen ins Gespräch. Saito, ein 66-jähriger Rentner, lud die Muslime zur gemeinsamen Park-Verschönerung und dem traditionellen Reiskuchen-Schlagen ein. Nasirul Hakim, der 49-jährige Moschee-Vorstand aus Bangladesh, und seine Glaubensgenossen öffneten die Moschee für interessierte Nachbarn. Und sie gehen gemeinsam Patrouille.

„Das hat gleich mehrere positive Effekte“, sagt Saito. „Wir lernen uns gegenseitig kennen und verlieren die Scheu voreinander. Die Patrouillen und die Sorge um die gemeinsame Sicherheit tragen zur Integration bei. Die Muslime tragen etwas Wichtiges zum Leben in unserem Viertel bei. Das wird von den Nachbarn sehr honoriert. Man kann nicht jemanden hassen, der für Sicherheit sorgt.“

Hakim lebt seit 28 Jahren in Japan. Er hat Japaner stets als sehr verschlossen wahrgenommen. Erst durch die Nachbarschafts-Organisation, erst durch das gemeinsame Patrouillieren, habe er ein anderes Bild von seiner neuen Heimat bekommen. „Mir war nicht klar, dass sie so aufeinander aufpassen und teilweise so enge Verbindungen mit ihren Nachbarn haben.“ Sein Glaubensgenosse Sheil Rana, der vor 30 Jahren eingewandert ist und eine japanische Ehefrau hat, sagt: „Ich fühle mich mehr als Japaner als jemals zuvor.“

Sorge um öffentliche Sicherheit spaltet und verbindet



Dass die Sorge um öffentliche Sicherheit spalten, aber auch verbinden kann, haben auch die Einwohner von Warabi City, einem Ortsteil von Kawaguchi, gelernt. In der Stadt am nördlichen Rand Tokios hat sich eine kurdische Community entwickelt, rund 1500 der insgesamt 2000 japanischen Kurden leben in diesem Viertel („Warabistan“). Eine für Japan sehr große Zahl von Ausländern in einer Nachbarschaft. Das führte zu Konflikten: Die Kurden trafen sich, wie sie es aus ihrer Heimat gewohnt sind, an einem öffentlichen Platz und diskutierten durchaus lautstark miteinander. Als Treffpunkt hatten sie sich den Eingangsbereich eines Supermarkts in der Nähe eines Bahnhofs ausgesucht.

Die Einheimischen fühlten sich angesichts dieser meist männlichen Fremden unwohl, interpretierten die für japanische Verhältnisse hochemotionalen Diskussionen als bedrohliche Auseinandersetzungen. Jedes Wochenende habe es Beschwerden bei der Polizei gebe, wie Vakkas Colak zugibt. Der Vorsitzende der japanisch-türkischen Kulturvereins suchte nach einer Lösung. „Wir wollten den Japanern zeigen, dass wir keine Kriminellen sind.“

Colak kam vor zehn Jahren als Student nach Japan und heiratete eine Japanerin. Er initiierte eine von Kurden getragene Nachbarschafts-Patrouille. Mit Unterstützung der Nachbarschafts-Organisation des Viertels und der Polizei fingen der 36-Jährige und seine Mitstreiter an, jedes Wochenende rund um den Supermarkt nach dem Rechten zu sehen. Teilweise unterstützt von japanischen Nachbarn. „Wir haben unseren Leuten gesagt, dass sie nicht so laut sein dürfen. Und den Japanern haben wir erklärt, dass die Männer dort nichts Schlimmes tun, sondern wir uns eben gerne treffen und uns dabei anders verhalten, als es die Japaner kennen.“ Die Kurden, für die Polizei in ihren Heimatländern oft für Unterdrückung und Gewalt stehen, mussten lernen: Die Männer in Uniform sind in Japan keine Feinde, sondern grundsätzlich Freund und Helfer.

Das Resultat: Nach sechs Monaten habe es keine einzige Beschwerde über die Kurden mehr bei der Polizei gegeben, sagt Vakkas Colak. Ein Polizist aus Kawaguchi bestätigt dies: „Wir als Polizei konnten nicht einschreiten, da die Kurden nichts Verbotenes gemacht haben. Deshalb sind wir froh, dass das Problem so gelöst werden konnte.“

Kurden wissen: Sie müssen sich anpassen



Vakkas Colak ist bewusst, dass sich einige seiner Landsleute noch an Gewohnheiten und Gesetze in ihrem Gastland anpassen müssen. „Für die japanische Gesellschaft ist Integration nichts Alltägliches. Deshalb müssen nicht die Japaner auf uns zukommen, sondern wir auf sie.“

Das ist nicht für alle Kurden so selbstverständlich wie für Colak. Es gebe bei den meist türkischstämmigen Kurden durchaus Widerstand gegen die unbezahlten Patrouillengänge. Vor allem von denen, deren Asylanträge wegen der sehr restriktiven Migrations-Politik Japans abgelehnt werden. „Warum sollen wir etwas für die Japaner tun? Wir bekommen ja auch kein Asyl“, sei ein Argument. Was Colak darauf entgegnet? „Zumindest werdet ihr in Japan nicht verfolgt und geschlagen. Ihr müsst das politische System des Gastlandes akzeptieren, nehmen, was es euch gibt und macht daraus das Beste.“

Die Einheimischen in „Warabistan“ sind durchaus bereit, den Kurden bei der Integration zu helfen. Dabei geht es um kleinste Details des Zusammenlebens, das in Japan von vielen Konventionen geregelt ist. So hat die Gemeinde doch tatsächlich für die Kurden einen Workshop auf die Beine gestellt, um ihnen beizubringen, dass eine leere Plastikflasche in drei verschiedene Mülleimer gehört: einer für den Deckel, einer für die Ummantelung, einer für die Flasche selbst. Mit Sicherheit hat das, streng genommen, nichts zu tun. Dann wieder doch. Denn viele der Beschwerden über die Kurden hatte genau hier ihren Ursprung. Aus Unmut über die Nichtbeachtung der Abfall-Regeln wurde Angst vor den fremden Männern.

Im Spannungsfeld von Sicherheit und Integration geht es oft weniger um Bedrohung, sondern um das (fehlende) Gefühl der gegenseitigen Akzeptanz.


Info-Kasten



Was ist das Problem?

Obwohl die Kriminalitätsrate seit Jahren sinkt, fühlt sich laut einer Civey-Umfrage für FOCUS Online jeder Dritte in Deutschland nicht sicher. Andererseits gibt es immer wieder das Bestreben, Migranten mehr am Leben in ihrer neuen Umgebung teilhaben zu lassen, von ihnen aber auch Verantwortung dafür einzufordern.

Was macht Japan?

In Japan haben Nachbarschafts-Organisationen eine lange Tradition. Sie organisieren Festivals, kümmern sich um die Platzierung von öffentlichen Mülleimern und übernehmen auch Verantwortung für die Sicherheit auf den Straßen. Abgestimmt mit der örtlichen Polizei patrouillieren sie in ihrem jeweiligen Bezirk.

Potentielle Einbrecher sollen erst gar nicht auf dumme Gedanken kommen, Frauen sollen sich auch abends sicher fühlen. Wobei es ausschließlich um Kriminalprävention geht – das Aufklären von Verbrechen überlassen sie der Polizei. Die Nachbarschafts-Organisationen sind schon wegen ihrer festen Einbindung in das Gemeindeleben nicht vergleichbar mit oft von Rechten organisierten Nachbarschaftsmilizen in Deutschland.

Was kann Deutschland davon lernen?

Joachim Kersten forscht als Professor in einem internationalen Projekt der EU an der Deutschen Polizeihochschule und arbeitete mehrere Jahre in Japan. Er lobt dieses Konzept und hält es für nachahmenswert. „Es ist ein interessanter und positiver Ansatz, um Integration voranzutreiben. Wir haben hier in Deutschland sicher Potential, Ausländer mehr einzubinden, wenn es um Verantwortung für die eigene Nachbarschaft angeht.“

Es gibt in Deutschland bereits Beispiele, wie Migranten und Bürger mit ausländischem Hintergrund über die Teilnahme an Aktionen Verantwortung für ihre Nachbarschaft übernehmen. So existiert etwa in Essen seit 13 Jahren die „Pico Bello“- Aufräumaktion, bei der in der Vergangenheit auch Vertreter der libanesischen Familienunion geholfen haben.

Was gilt es zu beachten?

Japans Nationale Polizei Agentur gibt auf Nachfrage von FOCUS Online zu, dass es landesweit keinen einzigen Polizisten mit Migrations-Hintergrund gibt. Außer der Maßgabe, in Polizeiwachen in Touristengebieten auch englischsprachige Beamte einzusetzen, gibt es demnach keine Strategie für den Umgang mit unterschiedlichen Menschen aus fremden Ländern und Kulturen.


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