Wolfenbüttel. Im Februar wurde ein 57-jähriger Wolfenbütteler festgenommen, da er im Verdacht steht, seine Frau mit einem Messer tödlich verletzt zu haben (regionalHeute.de berichtete). Am heutigen Mittwoch ging der Prozess in eine neue Runde und offenbarte einige Fragezeichen. Selbst ein Freispruch ist nicht auszuschließen.
Am 27. Februar ging am frühen Morgen ein Notruf in der Rettungsleitstelle ein. Der Anrufer ist der Angeklagte Jürgen P., der Hilfe anfordert: "Meine Frau verblutet, wir brauchen einen Notarzt." Polizei und Rettungssanitätern bietet sich vor Ort ein schockierendes Bild: Das Schlafzimmer ist mit Blut regelrecht überflutet, im Boden steckt ein Messer, Jürgen P. kniet über seiner Frau, presst seine Hände auf die Wunden der 55-jährigen Silvia. Später soll sogar entdeckt werden, dass fast das gesamte Haus Blutspuren aufweist. Anfangs werden die Spuren als Zeichen für eine Verfolgungsjagd gedeutet, der Angeklagte soll seine Frau in die Hüfte gebissen, später in den hinteren Oberschenkel und in die Schulter gestochen haben, beim Schulterstich wurde die Lunge verletzt, doch resultierte der größte Blutverlust aus der Oberschenkelverletzung.
Die Tatwaffe: Ein 20 Zentimeter langes Messer mit einer neun Zentimeter langen Klinge. Doch nun wird es undurchsichtig, der Ehemann schweigt sich aus, will die Tat nicht geschehen und kommt zunächst in U-Haft. Nur er und seine Frau waren in dem Haus, somit kommen nur Jürgen P. und seine Frau als Verursacher der Wunden in Frage. Ein Gutachter behauptet zunächst, dass die Wunden nicht von der Verstorbenen ausgeführt worden sein könnten, revidiert sich jedoch später. P. wird aus der Haft entlassen, Suizid steht im Raum. Es gibt genau ein Szenario, bei dem Silvia P. sich unterhalb der Schulter in die Lunge gestochen haben könnte. Äußerst unwahrscheinlich, aber nicht gänzlich auszuschließen, so Staatsanwalt Hans-Christian Wolters gegenüber regionalHeute.de. Auch der Stich von hinten und nicht etwa von oben in den Oberschenkel sei zumindest untypisch.
Behandelten die Sanitäter die Frau zu spät?
Dazu kommt, dass die Blutspuren in Flur, Küche, Badezimmer und in anderen Räumlichkeiten bereits älter sein könnten und nicht beweisbar mit der Tat in Verbindung zu bringen sind. Ein weiteres Ass befindet sich auch noch im Ärmel der Verteidigung: Sie sehen die 15 Minuten, die verstreichen, bis Silvia P. im Krangenwagen behandelt wurde kritisch. Wegen des vielen Bluts und der undurchsichtigen Lage hatten die Sanitäter die Gefahr im Haus nicht einschätzen können und entschieden sich, die Verletzte erst in den Krankenwagen zu transportieren und dort Maßnahmen einzuleiten. Dort bricht jedoch ihr Kreislauf wegen des hohen Blutverlusts zusammen, Reanimationsmaßnahmen zeigen keine Wirkung. Die 55-Jährige stirbt.
Der genaue Tathergang ist nicht zu 100 Prozent rekonstruierbar. Nach einer Blutspurenmusteranalyse kann eine Verfolgungsjagd sogar ausgeschlossen werden, die Stichverletzungen wurden im Bett im Schlafzimmer ausgeführt, der Biss könnte, muss aber nicht zwangsläufig vom Ehemann stammen. Die Schlafzimmertür wurde zwar mit Gewalt geöffnet, es ist aber nicht belegbar, wann dies stattfand. Der zerbrochene Tisch im Erdgeschoss könnte auch viel früher zu Bruch gegangen sein. Eine dritte Person konnte zwar ausgeschlossen werden, doch ist Jürgen P. nicht zweifelsfrei verantwortlich für das Blutbad an seiner Frau, die jahrelang Medikamentenmissbrauch betrieb und schwere Alkoholikerin war. Auch der Ehemann hatte drei Promille in besagter Nacht im Blut und soll nach Zeugenaussagen über viele Jahre seine Frau misshandelt haben. Tatsächlich ist Silvia P. mit früheren Verletzungen übersät. Eine ehemalige Nachbarin sagte heute vor Gericht aus, dass Schmerzensschreie der Verstorbenen und Schlaggeräusche regelmäßig, teilweise über Stunden, zu hören waren.
Die verstorbene Frau soll jahrelang vom Ehemann geschlagen worden sein
Silvia P. war auch häufiger Gast in der Notaufnahme, stellte sogar im Januar, also einen Monat vor ihrem Tod, Anzeige gegen Unbekannt und zog diese zwei Tage später wieder zurück. Sie nannte es ein Hirngespinst, ihr Gedächtnis spiele ihr oft Streiche. Das Bild des Schlägers will die Verteidigung des Ehemanns so nicht stehen lassen. Nie habe die Nachbarin die Polizei gerufen, so schlimm könne es also nicht gewesen sein, sonst müsste man ja von unterlassener Hilfeleistung sprechen. Vielleicht müsste die Staatsanwaltschaft sogar Strafanzeige stellen. Dies bringt den Staatsanwalt Wolters auf die Palme: "Versuchen sie sich bitte nicht als Hellseher, sondern konzentrieren sie sich auf das, was sie studiert haben." Doch kämpft die Verteidigung weiterhin mit Ellbogen, versucht alle drei geladenen Zeugen zu diskreditieren.
Polizeihauptkommissar Rasmussen habe als Ermittlungsführer Fehler begangen, viel zu spät Nachbarn befragt, nicht in Erfahrung gebracht, was die Notrufaufnehmende an die Retter weiter gegeben hätte. Auch habe er nicht die Ärztin, den letzten Kontakt zu der Verstorbenen, nicht befragt. Rasmussen beruft sich auf Tonbandaufnahmen des Notrufs und Berichte seiner Kollegen, rechtfertigt sich. Überhaupt sei die Befragung von Rasmussen unnötig, dieser sei nur eine Sekundärquelle. Jürgen P. lächelt mit seinen Vertretern, er weiß, dass für ihn gar ein Freispruch möglich ist oder immerhin eine minderschwere Tat wegen möglicher Verfehlungen der Retter für ihn herausspringen könnte. Die Indizien sprechen eine deutliche Sprache, nämlich die des Totschlags, doch ist die Beweislage nicht über jeden Zweifel erhaben.
Suizid oder Totschlag?
Stellt sich die Frage, was das Gericht für wahrscheinlich hält: Tötete sich Frau P. mit einem Stich unterhalb der Schulter, eine Aktion, die nach Ansicht der Gutachter nicht einmal jeder Mensch bewegungstechnisch vollführen kann, und von hinten liegend in den Oberschenkel selbst? Oder war es doch der Ehemann, der seine Frau jahrelang mutmaßlich misshandelte und sich als einziger mit seiner Frau im Haus befand. Der spannende Prozess wird seine Fortführung am 17. Oktober im Landgericht Braunschweig finden.
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