[image=5e1764d1785549ede64cd0e8]Die Chancen von Schülern, soziale Nachteile zu überwinden und ihr Leistungspotenzial auszuschöpfen, unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland deutlich. Das zeigt der Chancenspiegel, mit dem die Bertelsmann Stiftung und das Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) an der Technischen Universität Dortmund die Schulsysteme aller Bundesländer auf Chancengerechtigkeit untersucht haben. Ergebnis: Kein Land ist überall spitze, kein Land überall Schlusslicht – aber die Unterschiede zwischen den Ländern sind erheblich.
Mit dem Chancenspiegel möchten Bertelsmann Stiftung und IFS mehr Transparenz über die Chancengerechtigkeit in den deutschen Schulsystemen schaffen. „Es wird zwar viel über Chancengerechtigkeit debattiert, aber als Diskussionsgrundlage fehlt bislang ein Ländervergleich, der auf Fakten beruht“, sagte Jörg Dräger, Mitglied des Vorstands der Bertelsmann Stiftung. Der Chancenspiegel soll ein Schritt sein, diese Lücke zu füllen. Er versucht erstmals für Deutschland, Chancengerechtigkeit konkret zu erfassen und vergleichbar zu machen, damit Wissenschaft und Politik dieses zentrale Thema künftig besser diskutieren und bewerten können. Dafür haben die IFS-Wissenschaftler um Professor Wilfried Bos für jedes Bundesland analysiert, wie gerecht und wie leistungsstark das dortige Schulsystem ist.
Der Chancenspiegel bewertet Gerechtigkeit und Leistungsfähigkeit der Schulsysteme in vier Dimensionen: Integrationskraft, Durchlässigkeit, Kompetenzförderung und Zertifikatsvergabe. An ihnen kann man ablesen, wie integrativ Schulsysteme sind, ob sie soziale Nachteile wettmachen, Klassenwiederholungen und Schulabstiege vermeiden, welche Lesekompetenzen sie vermitteln, wie viele Schüler sie zur Hochschulreife führen oder wie erfolgreich insbesondere Schulabgänger ohne oder nur mit Hauptschulabschluss sind, einen Ausbildungsplatz zu finden. Im Kern beschreibt der Chancenspiegel somit, wie die Schulsysteme der Länder mit Vielfalt umgehen: Inwiefern werden starke ebenso wie schwache Schüler gefördert? Werden diejenigen wirksam unterstützt, die schon bei der Einschulung benachteiligt sind?
„Die Bundesländer müssen deutlich mehr voneinander lernen.“ Das ist für Jörg Dräger die zentrale Schlussfolgerung aus den großen Unterschieden zwischen den Ländern, die der Chancenspiegel abbildet. Das Ausmaß der Unterschiede verdeutlichen einige Beispiele: In Sachsen-Anhalt ist der Anteil der Kinder, die auf einer separaten Förderschule unterrichtet werden und keinen Zugang zur Regelschule haben, nahezu drei Mal höher als in Schleswig-Holstein. Und in Sachsen besuchen drei von vier Schülern eine Ganztagsschule, in Bayern nicht einmal jeder zehnte. „Hier bestehen Gerechtigkeitslücken, denn sowohl die Ganztagsschule als auch der Besuch einer Regel- statt einer Förderschule steigern die Bildungschancen“, sagte Dräger.
Ein regionales Gefälle zeigt sich auch im Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Lesekompetenz, der in Bremen fast doppelt so hoch ist wie in Brandenburg. Eine Hochschulzugangsberechtigung erreichen in Nordrhein-Westfalen, Hamburg, im Saarland und in Baden-Württemberg jeweils mehr als die Hälfte der Schüler – in Mecklenburg-Vorpommern nicht einmal 36 Prozent.
IFS-Direktor Professor Bos betonte, dass ausnahmslos alle Bundesländer Entwicklungsbedarf haben. „Wir hoffen, dass der Chancenspiegel die bildungspolitische Debatte um Chancengerechtigkeit in Deutschland zu versachlichen hilft“, sagte Bos. Wünschenswert für die Zukunft sei eine bessere und transparentere Datenlage. „Die Ergebnisse des Chancenspiegels können durchaus als Argumente für einen Wettbewerbsföderalismus verwendet werden. Dafür allerdings ist es unverzichtbar, die Vergleichbarkeit zu stärken. So wäre es zum Beispiel auch interessant, die Abschlüsse von inklusiv beschulten Kindern zu vergleichen mit den Abschlüssen von Förderschülern. Hier besteht noch Entwicklungspotenzial in der Datenbereitstellung der allgemeinen Statistik“, warb Bos für eine größere Offenheit der Länder gegenüber vergleichenden Länderstudien.
Der Chancenspiegel zeigt auch, dass Schulsysteme in Deutschland durchaus fair und leistungsstark zugleich sein können. In Sachsen etwa ist das Schulsystem vergleichsweise durchlässig: Die Chancen für Kinder aus unteren Sozialschichten auf einen Gymnasialbesuch sind relativ gut, nur wenige Schüler bleiben sitzen. Sachsen überzeugt aber nicht nur in dieser Gerechtigkeitsfrage, sondern auch bei der Kompetenzförderung. Sowohl die leistungsstärksten als auch die leistungsschwächsten Schüler gehören deutschlandweit zu den Besten ihrer jeweiligen Vergleichsgruppe. „Leistung und Gerechtigkeit sind im Bildungssystem kein Widerspruch – und dürfen es auch nicht sein. Gute Bildungspolitik strebt beide Ziele gleichermaßen an“, sagte Dräger.
Information zum Instrument: Der Chancenspiegel versteht sich als ein ergänzendes Instrument der Bildungsberichterstattung. Er basiert auf einem umfassenden Verständnis von Chancengerechtigkeit, das unterschiedliche Theorieansätze zusammenführt und operationalisiert. In den vier Dimensionen Integrationskraft, Durchlässigkeit, Kompetenzförderung und Zertifikatsvergabe bewertet der Chancenspiegel ausgewählte Indikatoren aus den amtlichen Statistiken und empirischen Leistungsvergleichsstudien. Ein Gruppenvergleich stellt die Chancenprofile der Bundesländer dar. Alle Informationen sind übersichtlich und grafisch aufbereitet unter www.chancen-spiegel.de. Der Chancenspiegel wird in den kommenden Jahren fortgeschrieben.
Chancenprofil Niedersachsen
In der Dimension Integrationskraft (I) gehört Niedersachsen zur Spitzengruppe der Bundesländer. In den Bereichen Kompetenzförderung (K) und Zertifikatsvergabe (Z) erreicht das Land jeweils einen Platz in der mittleren Ländergruppe, in der Durchlässigkeit (D) landet es nur in der unteren Ländergruppe.
Auswahl von Ergebnissen in den vier Dimensionen des Chancenspiegels auf einen Blick:
1. Integrationskraft: Spitzengruppe
4,4 Prozent aller Schüler sind vom Regelschulsystem ausgeschlossen und wurden gesondert in Förderschulen unterrichtet (Bundesdurchschnitt: 5,0%). Das bedeutet im Ländervergleich einen Platz in der oberen Ländergruppe.
4,8 Prozent aller Schüler benötigen nach den landesspezifischen Diagnosestandards sonderpädagogische Förderung (Bundesdurchschnitt 6,2 Prozent). Ländervergleich: Spitzengruppe.
25,9 Prozent aller Schüler in der Primar- und Sekundarstufe 1 besuchen eine Ganztagsschule (Bundesdurchschnitt: 26,9 Prozent). Ländervergleich: Mittlere Gruppe.
2. Durchlässigkeit: Untere Gruppe
Die Chance eines Kindes aus oberen Sozialschichten, das Gymnasium zu besuchen, ist 5,8 mal höher als die eines Kindes aus unteren Sozialschichten (Bundesdurchschnitt: Faktor 4,5). Ländervergleich: Untere Gruppe.
34,8 Prozent aller Schüler, die maximal einen Hauptschulabschluss hatten, erhalten einen Ausbildungsplatz im Dualen System (Bundesdurchschnitt: 41,5 Prozent). Ländervergleich: Untere Gruppe.
Schulformwechsel: Einem Aufwärts- stehen 11,8 Abwärtswechsel gegenüber (Bundesdurchschnitt: 1:4,3).
Ländervergleich: Untere Gruppe.
3,2 Prozent aller Schüler der Sekundarstufe müssen eine Klasse wiederholen (Bundesdurchschnitt: 2,9 Prozent).
Ländervergleich: Mittlere Gruppe
3. Kompetenzförderung: Mittlere Gruppe
Lesekompetenz: Viertklässler erreichen durchschnittlich 544 Kompetenzpunkte (Bundesdurchschnitt: 548 Kompetenzpunkte). Ländervergleich: Mittlere Gruppe.
Lesekompetenz: Neuntklässler erreichen durchschnittlich 490 Kompetenzpunkte (Bundesdurchschnitt: 496 Kompetenzpunkte). Ländervergleich: Mittlere Gruppe.
Die leistungsstärksten Neuntklässler erreichen durchschnittlich 617 Kompetenzpunkte (Bundesdurchschnitt: 613 Kompetenzpunkte). Ländervergleich: Spitzengruppe.
Die leistungsschwächsten Neuntklässler erreichen 362 Kompetenzpunkte (Bundesdurchschnitt: 376 Kompetenzpunkte). Ländervergleich: Mittlere Gruppe.
Bildungsnähe des Elternhauses: Viertklässler aus bildungsnäheren Elternhäusern erreichen 30 Kompetenzpunkte mehr als Schüler aus bildungsfernen Elternhäusern (Bundesdurchschnitt: 40 Kompetenzpunkte). Ländervergleich: Spitzengruppe.
Benachteiligte Jugendliche im 9. Jahrgang erreichen 54 Kompetenzpunkte weniger als privilegierte Jugendliche. (Bundesdurchschnitt: 67 Kompetenzpunkte Unterschied). Ländervergleich Spitzengruppe.
4. Zertifikatsvergabe: Mittlere Gruppe
42 Prozent der jungen Erwachsenen erreichen die Hochschulreife (Bundesdurchschnitt: 46,4 Prozent).
Ländervergleich: Untere Gruppe.
Der Anteil der Schulabgänger ohne Schulabschluss liegt bei 6,2 Prozent (Bundesdurchschnitt: 7,0 Prozent).
Ländervergleich: Spitzengruppe.
Daten und Fakten zum Schulsystem Niedersachsen
Fläche des Landes – [8] 47.635km²
Einwohnerzahl (Stand: 31.12.2009) – [8] 7.928.815
Anteil ausländische Bevölkerung in % (Stand: 31.12.2009) – [1] 6,6
Erwerbstätigenquote in % (2010) – [2] 70,2
Arbeitslosenquote (Januar 2011) – [3] 7,0
Bildungsstand Gesamtbevölkerung in % (2010) – [5]
…Hauptschulabschluss 39,0
…Realschul- oder gleichwertiger Abschluss 28,4
…Fachhochschul- oder Hochschulreife 22,8
Anzahl der Schüler im allgemeinbildenden Schulsystem (2010) – [4] 927.446
Anzahl der Schüler an beruflichen Schulen (2010) – [1] 282.742
Ausgaben der öffentlichen Haushalte für Bildung 2011 (Soll) Anteil am Gesamthaushalt – unmittelbare Ausgaben in % – [5] 22,0
Ausgaben für öffentliche allgemein bildende Schulen je Schüler im Haushaltjahr 2008 in Euro – [6] 5.200
Ausgaben für öffentliche berufliche Schulen je Schüler im Haushaltsjahr in Euro – [6] 3.800
Anzahl allgemeinbildende Schulen (2010) – [4]
Grundschulen 1.810
Hauptschulen 500
Schularten mit mehreren Bildungsgängen -
Realschulen 503
Gymnasien 294
Integrierte Gesamtschulen 64
Sonderschulen/Förderschulen 340
Anzahl berufliche Schulen (2010) – [1]
Insgesamt 946*
Lehrpersonal an allgemeinbildenden Schulen (2010) – [4]
Insgesamt 69.644
Lehrpersonal an beruflichen Schulen (2010) – [7]
Insgesamt 13.400
Quellen
[1] Statistische Ämter des
Bundes und der Länder
[2] Amtliche Sozialberichterstattung
[3] Arbeitsmarktstatistik der
Bundesagentur für Arbeit
[4] Statistisches Bundesamt:
Fachserie 11, Reihe 1 „Bildung
und Kultur – Allgemeinbildende
Schulen“
[5] Statistisches Bundesamt
[6] Statistisches Bundesamt:
Bildungsfinanzbericht 2010
[7] Statistisches Bundesamt:
Fachserie 11, Reihe 2 „Bildung
und Kultur – Berufliche Schulen“
[8] Ländermonitor frühkindliche
Bildung
(www.laendermonitor.de)
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