Wolfenbüttel. Ob er ein glückliches Leben hatte, wollte ein Zuhörer am Ende des Vortrags von Sally Perel wissen. Der 93-Jährige hatte kürzlich am Diakonie Kolleg 90 Minuten über seine Flucht vor den Nazis, das Leben als Jude in einem Heim der Hitler-Jugend und die Folgen einer Erziehung zum Hass gesprochen.
Nicht wenige der Zuhörer im Saal des Diakonie-Kolleg am Exer, fast alle sind angehende Erzieher oder Altenpfleger, sind erstaunt über die ungewöhnliche Frage.
Als „Hitlerjunge Salomon“ bekannt geworden, nimmt Sally Perel mehrfach im Jahr den Weg von Israel nach Deutschland auf sich, um von seinem Leben als Jude in nationalsozialistischen Deutschland zu berichten. „Angesichts der aktuellen Entwicklungen ist es wichtig zu wissen und zu verstehen, was damals in Deutschland passierte. Die heutige Generation trägt keine Schuld an der Geschichte, aber sie macht sich schuldig, wenn sie die Taten und Fehler wiederholt“, erklärt er seine Motivation.
Indem er seine Geschichte erzählt, macht er alle Zuhörer zu Zeitzeugen, denn sie haben die Geschichte aus Erster Hand gehört. Daher folgte Perel gern der Einladung von Franz Schoo, Religionslehrer am Diakonie-Kolleg, der ihn bei einem früheren Vortrag kennengelernt hatte. „Durch die Unterstützung der Heinrich Böll-Stiftung konnten wir Herrn Perel die Reise zu uns - und den Schülern diese einmalige Begegnung ermöglichen“, freute sich Schulleiter Harald Röleke.
Perel lebte als Jugendlicher in einem Heim der Hitler-Jugend in Braunschweig. Die dortige Erziehung zum Hass auf Juden habe ihn nie losgelassen, bis heute spüre er die Folgen dieser Zeit. Obgleich er mittlerweile den größten Teil seines Lebens in Israel gelebt hat, gab es "immer wieder Phasen des Selbsthasses und Verachtung alles Jüdischen". Auch Freude an die damalige Zeit könne er durchaus spüren, wenn ihn etwas an schöne Momente im Heim erinnere. "Ich bleibe wohl immer irgendwie ein Hitler-Junge." Seine Herkunft gebe ihm allerdings die Möglichkeit der Reflektion und immer wieder die Bestätigung, welchen irrsinnigen Idealen die Nazis folgten: „So stand ich etwa, man stelle es sich mal vor, vor der ganzen Klasse als Beispiel für einen Arier ostbaltischen Typs“, schmunzelt er.
„Für unsere Schüler ist es wichtig und wertvoll, so offen von diesen Erlebnissen zu hören. Egal ob Altenpflegeschüler oder Erzieher – für beide Gruppen ist die Auseinandersetzung mit den Erziehungsmethoden und -zielen wichtig“, sagt Gesa Pfeiff, Fachbereichsleiterin der Altenpflege.
Thorsten Krug, Marleen Franke und Nicole Geida. Foto:
Und die Eingangsfrage? Trotz der Erinnerung an die schwere Trennung von den Eltern, die in Lotsch blieben, während Perel flüchtete, findet er eine positive Antwort: „Meine Mutter sagte mir beim Abschied ‚Du sollst leben‘ - daran habe ich immer gedacht“, erzählt Perel. „Heute habe ich eine Familie, Kinder und Enkel. Ich lebe. Und das ist gut.“
Als Andenken an den Besuch von Sally Perel plant die Schulleitung einen alljährlichen Gedenktag im Februar. Wie genau dieser aussehen wird, steht noch nicht fest. „Aber wir wollen und dürfen die Geschichte des Holocaust nie vergessen“, mahnt Röleke.
Nicole Geida, 26, angehende Erzieherin: „Was passiert ist, sollte nicht in Vergessenheit geraten. Daher war es beeindruckend, einem Zeitzeugen zuzuhören.“
Marleen Franke, 22, angehende Erzieherin: „Es ist beeindruckend, wie frei und kraftvoll er vorträgt. Seine humorvolle Art ist mitreißend und nimmt dem Thema etwas von seiner Schwere.“
Thorsten Krug, 47, angehender Altenpfleger: „In der Pflege begegnen mir immer wieder Betreute, auch jüdischer Abstammung, die die NS-Zeit erlebt haben. Angesichts solcher Geschichten macht mir die aktuelle politische Entwicklung Sorgen.“
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