Wolfenbüttel. Es ist ein Mammut-Programm und aller Ehren wert, was Nelly Schrader derzeit abspult. Die 20-jährige Abiturientin aus Wolfenbüttel organisiert Pressekonferenzen, nimmt an Demonstrationen teil, tritt vor die laufenden Kameras aller Sender und sprach sogar schon im Bundestag. Zwischenzeitlicher Höhepunkt ihrer Kampagne: Das Quorum einer Petition an den Bundestag wurde mit über 100.000 Unterschriften mehr als doppelt erfüllt. Dies geht aus einer Pressemitteilung hervor.
Bei all dem geht es um die Aktion "Freiwilligendienste stärken". Doch deren Macher wurden sozusagen kalt erwischt: Gerade als ihre Liste mit einer Handvoll Forderungen in den Petitionausschuss eingebracht wurde, kam die Hiobsbotschaft aus dem Familienministerium: "Der Etat soll von 330 Millionen um 60 Millionen Euro gekürzt werden", sagt Nelly Schrader. "Ein Drittel aller Plätze würde wegfallen."
Von Verbesserungen sei nun natürlich erstmal keine Rede mehr. "Wir müssen die Kürzungen aufhalten und dafür sorgen, dass der Freiwilligendienst nachhaltig bestehen bleiben kann." Um die Situation zu verdeutlichen, hat die Aktivistin zu einem Pressegespräch Laura Maier mitgebracht, die in der Wolfenbütteler ,Veränderbar' ein Freiwilliges Jahr absolviert. Außerdem sitzt Peter Burkert am Tisch, der Sozialarbeiter im Schloss-Gymnasium – dort arbeiten seit Jahren junge Freiwillige und bereichern das Programm und die Betreuung. "Sie übernehmen Aufsichten und begleiten Hausaufgaben-Zeit", schildert er. Auf diese Weise würde Lehrkräften der Rücken freigehalten für ihre Kernaufgabe. "Das ist eine enorme Erleichterung."
Burkert sieht einen riesigen Mehrwert, den die Gesellschaft durch die rund 85.000 Freiwilligen in den Bereichen Sport, Kultur, Soziales, Pfege und Ökologie ernte. "Die Politik hat die geplante Kürzung nicht durchdacht", glaubt er. Darüber hinaus sei erwiesen, dass aus solchen Freiwilligendiensten ein gewaltiges Potenzial an Ehrenamt erwachse. "Solche Leute bleiben Zeit ihres Lebens dem Ehrenamt verbunden."
Empathie ohne Ausbildung
Dass hauptamtliche Kräfte künftig die Freiwilligen ersetzen, sei im Grunde undenkbar – gerade in Zeiten fehlender Fachkräfte. "Ob in der Betreuung der Kinder oder bei der Pflege alter Menschen: Freiwillige können investieren, was die Angestellten kaum noch haben: Zeit." Einfach mal die Hand einer Seniorin halten oder einem Kranken Mut zusprechen – dieses Zwischenmenschliche drohe, verloren zu gehen, denn Hauptamtliche könnten es nicht mehr leisten. Für Freiwillige hingegen sei das kein Problem: "Um Empathie zu zeigen, braucht man keine Ausbildung."
Ein weiterer starker Pluspunkt sei, dass die jungen Leute zwischen Schule und Beruf ein Jahr zur Persönlichkeitsbildung nutzen und zur Berufsfindung. "Viele Schüler haben ja bis dahin noch gar keine Erwerbsarbeit nicht kennen gelernt." Nelly Schrader glaubt, dass es nach einem solchen Kennenlern-Jahr weniger Abbrecher in Studium und Ausbildung gibt. "Auf diese Weise generieren wir also auch Fachkräfte für die künftigen Jahre."
Nicht mehr als ein Taschengeld
Wie knapp die Finanzierung vor Ort aussieht, zeigt das Beispiel Laura Maier. Die 18-Jährige arbeitet zwischen Schule und Studium ein Jahr in der ,Veränderbar', sie ist dort die einzige Vollzeitkraft neben vier Minijobbern. "Ich mache hier alles, vom Aufschließen, Theke, Bedienung, Bestände auffüllen, Kasse bis zum Abschließen, das alles von Dienstag bis Samstag." Dafür bekommt sie ein sogenanntes Taschengeld in Höhe von 355 Euro. Burkert nennt das "eine Vollzeitstelle für die Kosten eines Minijobs": Leben könne man davon nicht. Um über die Runden zu kommen, hat Laura Maier montags noch einen Zweitjob in der Gastronomie.
Das Engagement der Gruppe um Nelly Schrader findet sie großartig. "Die Gruppe muss sich einsetzen, sonst gibt es keine Zukunft für den Freiwilligendienst und die Leute, die ihn machen wollen." Die Einsparungen sieht sie skeptisch. "Was soll man bei mir noch kürzen?" In der ,Veränderbar' werde es im Ernstfall wohl darauf hinauslaufen, dass die Stelle ganz wegfällt. "Aber wer soll dann die Arbeit machen?"
Nelly Schrader jedenfalls muss weiter. Nächste Woche steht der bundesweite Aktionstag der Freiwilligen in Hamburg an, so wie in der Woche darauf Gespräche mit Familienministerin Lisa Paus in Berlin. "All diese Reisen zahlen wir natürlich aus eigener Tasche", bemerkt die engagierte Frau am Rande. Und gibt emotional gleich wieder Vollgas: "Es wäre totaler Mist, wenn die Regierung den vielen Jugendlichen ihre Orientierungszeit nimmt." Das sehen offenbar mehr als 100.000 Unterstützer der Petition ähnlich.
Übrigens habe die Spar-Ankündigung aus Berlin inzwischen auch einen positiven Effekt : "Zum ersten Mal überhaupt vernetzen sich die Freiwilligen-Strukturen in ganz Deutschland", freut sich Nelly Schrader. "Und zwar über alle Fachbereiche hinweg."
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