KolumneHeute: Frau Nachbarin

von Sina Rühland


| Foto: Sina Rühland



Wolfenbüttel. Ob im Miethaus oder im Eigenheim, sie sind überall: Nachbarn. Alles sehende, alles besser wissende, alles kommentierende Nachbarn. Nicht immer gelingt es schnell ins Haus zu schlüpfen, bevor das lautstarke „Juhuu, Frau Rüüühland“ ertönt.

Schon der erste Tag in dem Haus war eine reine Freude. Wer wird nicht gerne mit Argusaugen dabei beobachten, wie er verschwitzt hechelnd den hundertsten Karton ins Haus hievt? „Was machen Sie denn da?“, fragt Frau Nachbarin. Wonach sieht es denn aus, frage ich mich, antworte natürlich höflich, stelle mich vor – man möchte ja nicht gleich unangenehm auffallen. Ein paar Tage später biege ich um die Ecke, gehe auf die Haustür zu, da bewegt sich eine Gardine am Fenster. Großartig, einen Wachhund braucht das Haus wohl nicht. Nachbarn sind doch wirklich etwas feines. Immer das Wohl ihrer Nachbarn im Sinn.

Einige Tage später: „Da war gerade ein junger Mann, der hat bei Ihnen geklingelt“, erzählt Frau Nachbarin. Sie hat das natürlich mitbekommen, schließlich sitzt sie den ganzen Tag in ihrem Garten vor dem Haus. Ich bedanke mich für die Information, suche verzweifelt den Schlüssel in meiner Handtasche, um möglichst schnell ins Haus zu gelangen. „Haben Sie eigentlich die Altpapiertonne so voll gemacht?“ Möglich, denke ich. „Das war bestimmt die aus dem zweiten Stock. Unmöglich finde ich das", sagt sie. „Naja, die Tonne wird ja ohnehin morgen abgeholt“, antworte ich mittlerweile leicht genervt, wünsche einen schönen Tag und schlüpfe ins Haus.



Einige unerfreuliche Zusammenkünfte dieser Art später, frage ich mich, ob meine Wohnungswahl wohl sorgsam getroffen wurde. Es ist ja nicht so, dass der Wohnungsmarkt einem Suchenden großartig viele Optionen bietet – man muss nehmen, was man bekommen kann. Inklusive der Nachbarn. Da ich mittlerweile nur noch im Dunkeln meinen Müll herunterbringe und mir einen Tunnel Richtung Wohnung gebuddelt habe, begegnet mir Frau Nachbarin immer seltener. Herrlich – ich muss mir keine Denunziationen über die Mitbewohner mehr anhören, keine Kommentare mehr zu meinen Besuchern, kein Gardinengeraschel mehr, wenn ich meinen Schlüssel suche. Das ist verdächtig, überlege ich. Langsam mache mir Gedanken. Zwei Wochen später, es ist noch nicht dunkel, läuft mir Frau Nachbarin über den Weg. Laufen ist vielleicht übertrieben – sie humpelt. Sie sei in ihrer Wohnung gestürzt, erzählt sie. Ewig hätte sie da gelegen, ohne dass es jemandem aufgefallen wäre. Krankenhausaufenthalt und Reha folgten. Ich habe eine schlechtes Gewissen und langsam wird mir klar, dass Frau Nachbarin wohl einfach einsam ist. Auch nervige Menschen sollten nicht einsam ein. Hätte ich etwas mitbekommen müssen? Sie könnte schließlich meine Oma sein.

Seither bleibe ich stehen, wenn ich sie treffe, erkundige mich nach ihrem Wohlergehen, höre zu. Tut es denn weh, wenn man mal eben klingelt und fragt, ob man der alten Dame etwas aus dem Supermarkt mitbringen kann? So anstrengend und neugierig Nachbarn manchmal sind, vielleicht sind wir auch irgendwann dankbar, wenn uns jemand zehn Minuten seiner Zeit schenkt und einfach ein bisschen mit uns plaudert. Ich kann meine Oma förmlich hören: "Zu meiner Zeit hat es so etwas nicht gegeben. Wir waren damals noch alle beieinander und haben nicht den ganzen Tag alleine vor diesem Kasten gesessen." Und irgendwie müsste ich dann zugeben, dass da etwas Wahres dran wäre.


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