"Kommunalpolitik ist nicht das Kellergeschoss der Politik"

von Thorsten Raedlein




Wolfenbüttel. SPD-Urgestein Franz Müntefering ist am Montagabend der Einladung von SPD-Bürgermeisterkandidatin Astrid Salle-Eltner nach Wolfenbüttel gefolgt. In der Lindenhalle sprach er über die Herausforderungen des demographischen Wandels.

Dabei spielten nicht nur die sich abzeichnenden Risiken einer alternden Gesellschaft für die Sozialversicherungssysteme eine Rolle, sondern auch die sich daraus ergebenden Chancen für die Gesellschaft oder die Notwendigkeit von ehrenamtlichem Engagement. Müntefering wäre nicht Müntefering, wenn er nicht den komplizierten Sachverhalt verständlich formulieren könnte. Und er konnte. Ohne jegliche Polemik, dafür mit vielen eindrucksvollen Zahlen fächerte der ehemalige SPD-Vorsitzende die Problematik in verständlicher Sprache auf.

Der demografische Wandel präge die Zukunft unserer Gesellschaft. Wir würden weniger (-15 Prozent bis 2030 in  Wolfenbüttel), leben länger (durchschnittliche Lebenserwartung aktuell für Männer 82 Jahre, für Frauen 86 Jahre). Die soziale Gesellschaft sei gefordert und die Städte und Gemeinden seien der Dreh- und Angelpunkte dieser Entwicklung. Denn: "Kommunalpolitik ist nicht das Kellergeschoss der Politik“, so der frühere SPD-Chef und Vizekanzler.

Müntefering führte Statistiken zur bundesweiten Bevölkerungsentwicklung und zur Geburtenrate an. Es gebe weniger Kinder, dafür mehr alte Menschen. „Jetzt haben wir vier Millionen über 80-Jährige, 2020 werden es zehn Millionen sein“, sagte er. Insgesamt werde das Verhältnis Erwerbstätige zu Rentnern im Jahr 2030 zwei zu eins sein. Seit Anfang der 1970er Jahre würden in Deutschland weniger Kinder geboren, als es für eine gleichbleibende Bevölkerungszahl notwendig wären. Großstädte wie München bekämen dies nicht zu spüren, denn hier zögen immer mehr Menschen hin – mit den daraus resultierenden Problemen (kaum Wohnraum, hohe Mieten). Orte wie Ludwigslust böten das andere Extrem. Hier sei die Bevölkerung seit der Wende von 420 auf 250 gefallen. Und der jüngste Bewohner sei 49 Jahre alt.

Was also tun, wenn die Menschen nicht dahin ziehen, wo Wohnungen leer sind? "Wir müssen in unsere Zukunft investieren", sagt er. Immer noch würden zirka 60000 Kinder jedes Jahr ohne einen Schulabschluss die Schulen in Deutschland verlassen. Dies könne sich die demokratische Gesellschaft nicht mehr leisten. Nur 75 Prozent der Frauen mit Kindern würden „normal“ arbeiten. Die am besten ausgebildete Frauengeneration, die unser Land jemand gehabt habe, hätte zu wenig Chancen am Arbeitsmarkt und zwar nur, weil sie einer anderen ihrer ureigensten Aufgaben, nämlich Mutter sein, nachkämen. Auch dies müsse man ändern.

Junge Menschen müssten eine berufliche Perspektive haben. Nur wenn sie diese hätten, einen sicheren Job, dann würden sie sich auch für Kinder entscheiden. Und in eine Stadt zögen Eltern nur dann, wenn klar sei, dass es dort eine gute Schulstruktur und eine Perspektive für ihre Kinder gibt. Für die wachsende Anzahl der Senioren müsse es aber auch barrierearmen Wohnraum, von dem aus Apotheken und Ärzte erreichbar seien, geben. „Man muss in Wolfenbüttel auch gut alt werden können“, so Müntefering. Die Gesellschaft wiederum forderte er auf, die „Alten“ zu fordern: „Bewegt sie, Bewegung in den Beinen ernährt das Gehirn.“ Gerade für den ehrenamtlichen Sektor gebe es Chancen hier vom Wissen und der Tatkraft der Alten zu profitieren.

"Wir müssen auf die Bedürfnisse der älteren Gesellschaft eingehen", unterstrich Salle-Eltner nach dem Vortrag. Und die seien, von denen der jüngeren Generation gar nicht weit weg, stellte sie fest. Letzten Endes sei es egal, ob man mit dem Rollator oder dem Kinderwagen einen nicht abgesenkten Gehsteig überwinden möchte.


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