Auf den ersten Blick erscheint es wie eine völlig normale Szene: Eine Gruppe von Kindern tobt im Wald herum. Sie rutschen auf Rodelpfannen die Hänge hinunter, spielen in Sandkuhlen, klettern auf Bäume. Die Kinder sind eifrig, schwitzen, schreien laut. Die drei älteren Kinder agieren zunehmend gemeinsam, die anderen fünf beschäftigen sich eher allein. Die drei Erwachsenen, die sie begleiten, werden zum Mitmachen oder auch mal zum Schlichten von Streitigkeiten aufgefordert. Die sollen die Kinder aber möglichst allein lösen. Später wird es ruhiger, das wilde Durcheinander geht zu Ende. Jetzt erst können Rollenspiele stattfinden, bei denen die Kinder das gemeinsame Planen und miteinander Reden üben.
Die Ausflüge ins Lechlumer Holz sind bei den Kindern der Wolfenbütteler Lebenshilfe-Einrichtung stets beliebt. Sie gehören zum besonderen Konzept für die Löwengruppe, die aus acht Kindern mit sozial-emotionalen Störungen besteht. Zuvor waren die Kinder - etwa zehn Prozent wiesen Defizite im sozial-emotionalen Bereich auf - auf alle Gruppen im Siebenstein aufgeteilt. "Kognitiv sind sie den anderen voraus, doch ein gemeinsames Spielen und Lernen mit anderen Kindern ist nicht möglich. Sie können ihre Fähigkeiten nicht richtig einsetzen, sind aggressiv oder auch introvertiert“, verdeutlicht Siebenstein-Leiterin Karin Bartholomäus. Die Erfahrung habe gezeigt, dass in den ersten Wochen des schwierigen Zusammenseins der Wald zunächst der bessere Ort für Bewegung und Stressabbau ist als der Gruppenraum, erklärt die Siebenstein-Leiterin.
Nach zahlreichen Diskussionen im Mitarbeiterkreis und einem gemeinsamen Studientag fiel im Jahr 2010 die Entscheidung, das Projekt zu starten. „Auch Kinderärzte, Vertreter des Gesundheitsamtes, des Jugendamtes, der Erziehungsberatungsstelle und die Fachberaterinnen der Kitas in und um Wolfenbüttel wurden über das Vorhaben informiert“, sagt Bartholomäus. Der Kindergarten erarbeitete ein Konzept, das den Fähigkeiten und dem Förderbedarf der Kinder gerechter wird. Dazu zählen niederschwellige Erstziele für ein kooperatives Miteinander, beispielsweise das Aufnehmen von Blick- und Körperkontakt, miteinander reden, andere um Hilfe bitten. Die wichtigste Regel lautet: „Wir tun uns nicht weh."
Das Konzept legt neben einem klar strukturierten Tagesablauf und grundsätzlichen Förderzielen die Verbesserung der emotionalen Stabilität und der Identitätsfindung als pädagogische Schwerpunkte fest. Trotz der Besonderheiten hat die Löwengruppe keinen "Inselstatus". So besteht neben der täglichen Begegnung mit allen anderen Kindern auf dem Außengelände ein regelmäßiger Kontakt mit der Nachbargruppe. Beim wöchentlichen gemeinsamen Frühstück und anschließenden Spielen lernen die „Löwen“ auch, von den Stärken der anderen Kinder im sozial-emotionalen Verhalten zu profitieren. Betreut wird die Löwengruppe von zwei pädagogischen Fachkräften sowie einem Jahrespraktikanten. Der Psychologe der Einrichtung begleitet die Gruppe ebenfalls, zudem wird die pädagogische Arbeit regelmäßig mit einer externen Supervisorin reflektiert.
Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist der Einbezug der Eltern. „Wir führen regelmäßig Gespräche und empfehlen bei Bedarf geeignete Beratungsstellen, an die sie sich wenden können“, berichtet Bartholomäus. Entsprechend positiv fällt die Resonanz: „An den Elternabenden hat man gemerkt, dass man mit seinen Sorgen nicht alleine ist“, sagt beispielsweise Kerstin Wisse, deren Sohn Mirco zur Löwengruppe gehört. „Wir haben aufgrund seines Verhaltens viel durchgemacht. Doch dank des Kindergartens hat er viele Fortschritte gemacht“, attestiert Kerstin Wisse der Lebenshilfe-Einrichtung. Auch Nadine Focht zeigt sich erfreut: „Mein Jüngster, Marian, besucht die Gruppe und ist seitdem sehr ausgeglichen. Früher hatte er seine Kräfte nicht unter Kontrolle, jetzt kann er mit anderen Kindern spielen. Mein älterer Sohn, Fabian, zeigte genau dieselben Auffälligkeiten. Er hatte nicht die Möglichkeit, so ein Angebot anzunehmen. Er hat uns damals sehr ausgelaugt."
Nach dem Kindergarten wartet die Einschulung. „ Siebenstein hat gut vorgelegt. Mein Sohn Jannis hat sich nach einer Woche in der Sprachheilklasse unterfordert gefühlt und zusätzliche Aufgaben erhalten. Er geht gerne zur Schule“, freut sich Jasmin Solik. Die meisten Kinder haben auch weiterhin noch einen Förderbedarf, aber ihre Handlungskompetenzen sind deutlich verbessert. „Sie gehen mit mehr emotionaler Stabilität und Selbstvertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten und zur Schule“ fasst Bartholomäus zusammen. Aufgrund der Erfolge während der zweijährigen Erprobungsphase soll das Projekt weiterhin fortgesetzt werden.
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